
Wir müssen die Sicherheitsfrage, vor allem das Verhältnis zu Russland und China, ganz anders ernst nehmen als in der Vergangenheit. Manche wünschen sich noch immer, sie müssten nur mit den Fingern schnipsen, und alles wäre wieder so normal, wie es das schon unter Angela Merkel nicht mehr war. Aber die Politik der drei Affen – nichts hören, nichts sehen, nichts sagen – muss vorbei sein.
Robert Habeck, Der Spiegel, Januar 2025.
Bundestagswahl 2025: China-Politik von Bündnis90/Die Grünen
Das aktuelle Wahlprogramm von Bündnis90/Die Grünen nennt sich „Regierungsprogramm“ und trägt den Titel „Zusammen Wachsen“. Auf knapp 70 Seiten, in drei Kapiteln und rund 80 Unterpunkten, die alle mit „Für…“ beginnen, setzt das Programm in positivem Ton auf die „Kraft der Bürgerinnen und Bürger“.
Aus dieser Kraft leitet die Partei einen „Auftrag an die Politik“ ab und möchte in einer kommenden Regierung Verantwortung wahrnehmen. Es gehe jetzt „darum, diese Kraft als Zukunftskraft aufzunehmen: ökologisch und ökonomisch, solidarisch und europäisch“.(S.6)
In „Zusammen Wachsen“ wird China insgesamt 13 Mal erwähnt. Es ist der bisherige Höchstwert unter den Wahlprogrammen für die Bundestagswahl 2025.
Die Volksrepublik China wird direkt im ersten Kapitel „In die Zukunft wachsen – ökologisch und ökonomisch“ erwähnt, wo es um die „großen strukturellen Herausforderungen“ geht:
Der Systemkonflikt zwischen liberalen Demokratien und autoritären Staaten im Umfeld Chinas erforder[t] eine Neuausrichtung von Wirtschaftssicherheit und Handel, Lieferketten und Absatzmärkten. Wir werden diesen Wettstreit auch im Ökonomischen nur gewinnen, wenn wir den großen Vorteil der liberalen Demokratie maximal zur Geltung bringen: dass Menschen neue Ideen haben und Dinge frei entdecken und entfalten können.(S.9)
Der systemische Wettstreit zwischen liberalen Demokratien und autoritären Staaten zieht sich wie ein roter Faden durch das Wahlprogramm. Neben dem (geo-)politischen Umgang mit China ist auch die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und Europas ein Kernthema. Die Grünen wollen Wirtschaft und Finanzen verbessern und eine deutsche „Start-Up“-Kultur fördern:
Hier haben wir bisher im Vergleich zu den USA oder China eine große Schwäche beim Zugang zu Finanzierung. Wir erleichtern deshalb den Zugang zu Wagniskapital durch die Fortsetzung der WIN-Initiative.(S.11)
„Europe United“ für den Wettbewerb mit China und den USA
Die Politik der Grünen ist pro-europäisch ausgerichtet. Stichwort europäische Souveränität. Nicht weniger, sondern mehr Zusammenarbeit auf europäischer Ebene schaffe letztlich mehr Wohlstand in Deutschland:
Nur mit mehr Europa können wir im Wettbewerb mit den USA und China bestehen, können wir die gemeinsame Wachstums- und Innovationsschwäche überwinden und wieder treibende Kraft beim technologischen Fortschritt werden.(S.12)
Geopolitische Konflikte, Protektionismus und ein „schärferer“ internationaler Wettbewerb werden als Bedrohungen für „unseren Wohlstand und unsere wirtschaftliche Resilienz und Sicherheit“ benannt. Diesen Bedrohungen wollen die Grünen mit einer „zukunftsfähigen Handelsagenda“ begegnen.
Unfaire Handelspraktiken und Marktverzerrungen erfordern entschiedenes Handeln – deshalb setzen wir uns, wo es geboten ist, bei der EU-Kommission für Ausgleichszölle ein, etwa auf Stahl. Wir stärken der EU-Kommission in ihren Verhandlungen mit China über Dumping von E-Autos den Rücken, um die Interessen der europäischen Industrie zu wahren. Die Schlupflöcher im Zollrecht müssen geschlossen werden, durch die besonders asiatische Onlinehändler wie Temu unsichere Wegwerfprodukte am Zoll vorbeischleusen und europäische Hersteller unterbieten.(S.16)
Insgesamt soll die europäische Wirtschaft widerstandsfähiger und unabhängiger werden.
Strategisch wichtige Branchen werden wir mit einem neuen Investitionsprüfungsgesetz vor Übernahmen schützen. Um unsere Unabhängigkeit und ungestörte Lieferketten zu sichern, gehen wir bei Ausschreibungen in Sektoren mit hoher Abhängigkeit entsprechend der Resilienzvorgaben des Net-Zero Industry Acts vor.(S.16)
Europa bis 2050 klimaneutral
Während andere Politiker und Parteien den Klimawandel für eine Erfindung halten, spielen Klima- und Umweltschutz eine wichtige Rolle im Programm der Grünen. Hier ist die Klimakrise „eine der größten Sicherheitsrisiken des 21. Jahrhunderts“.
Die EU ist nach den USA und China aktuell der drittgrößte Emittent von klimaschädlichen Emissionen. Es kommt also auch auf unser gemeinsames Handeln an.(S.20)
Unter anderem soll das CO2-Grenzausgleichsystem der EU – Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM) – ausgeweitet werden.
Sicherheit, Freiheit, Wehrhaftigkeit
Im dritten und letzten Kapitel des Programms ist wieder viel von „Kraft“ und „Stärke“ die Rede. Diese beiden Attribute seien notwendig, um die Demokratie gegen Angriffe zu verteidigen, sowohl von innen als auch von außen.
Zu lange haben wir in Deutschland geglaubt, unsere Sicherheit in Europa sei selbstverständlich. Aber unsere Sicherheit wird von außen und innen angegriffen, und beide Dimensionen greifen zunehmend ineinander über. Sicherheit im 21. Jahrhundert bedeutet, dass unsere Bundeswehr gut ausgerüstet ist, und ebenso, dass wir unsere Bahnstrecken, Häfen und Stromleitungen schützen, Lieferengpässe vermeiden, Cyberangriffe verhindern und unsere Demokratie wehrhaft machen. Sicherheit bedeutet: uns unabhängiger machen von autoritären Regimen wie Russland oder China.(S.45)
Auch das Weltmachtstreben Chinas ist eine Herausforderung für die internationale Zusammenarbeit. Mit der ganzen Kraft der Diplomatie stellen wir Kooperation und eine regelbasierte internationale Ordnung dem gefährlichen Modell der Autokraten entgegen. Wir setzen auf einen zukunftsfesten Multilateralismus und Partnerschaften zunehmend auch im Globalen Süden.(S.46)
Handlungsbedarf sehen die Grünen auch im Bereich IT-Sicherheit und systematische Desinformation:
Die deutsche Wirtschaft erleidet jährlich einen Schaden von mehr als 200 Milliarden Euro durch Cyberangriffe, Datendiebstahl und Spionage. Diese Angriffe kommen hauptsächlich aus dem Ausland, insbesondere aus China und Russland. Wir werden mit einem Cybersicherheitsstärkungsgesetz unsere IT-Infrastruktur härten und widerstandsfähiger gegen Angriffe machen.(S.60)
Die letzten sechs Seiten des Regierungsprogramms widmen sich einer „aktiven Außenpolitik“ und einer Außen- und Sicherheitspolitik „in Verantwortung“.
Die USA sind Europas zentraler Partner bei globalen Krisen und Konflikten. […] Gleichzeitig müssen wir die europäische Souveränität stärken, geschlossen und entschlossen für unsere Werte und Interessen einstehen und politische Differenzen ehrlich und offen ansprechen. Wir bleiben fest in unseren Bündnissen verankert. Zugleich sind wir auf vielfältige und robuste Partnerschaften angewiesen – vor allem im Globalen Süden. Wir wollen unsere Zusammenarbeit mit Ländern in Asien, Afrika, Lateinamerika und Nahost gezielt ausbauen und um Partnerschaften basierend auf gegenseitigem Vertrauen und gemeinsamen Interessen werben. So gewinnen wir Verbündete für die Reform des multilateralen Systems, für globale Herausforderungen wie den Kampf gegen den Klimawandel und in der systemischen Auseinandersetzung mit autoritären Regimen.
China versucht zunehmend aggressiv, das internationale System nach seinen Interessen umzubauen und den militärischen Druck in der Straße von Taiwan zu erhöhen. Für uns ist China systemischer Rivale, Wettbewerber und Partner, doch die Rivalität rückt immer mehr in den Fokus Pekings. Mit der ersten China-Strategie der Bundesregierung haben wir begonnen, die jahrelange Naivität in der deutschen China-Politik zu beenden – diese gilt es nun konsequent umzusetzen und weiterzuentwickeln. Wir stärken unsere Zusammenarbeit mit Partnerstaaten im Indopazifik, insbesondere in den Bereichen Sicherheit, Handel und Klima.(S.62)
Die Grünen und der Globale Süden
Die folgenden drei Zitate aus dem Wahlprogramm fassen das Weltbild der Grünen und Deutschlands Platz darin nochmals zusammen.
Die großen Herausforderungen unserer Zeit sind global. Wir gehen sie an durch internationale Partnerschaften in gegenseitigem Interesse: für Klima und Biodiversität, für globale Gesundheit, für nachhaltigen Wohlstand, für menschliche Sicherheit und für Menschenrechte. Damit stellen wir nicht zuletzt ein dringend benötigtes glaubhaftes Gegenangebot zum Einfluss insbesondere Chinas und Russlands.
Wir stehen zu unserer historisch gewachsenen Verantwortung für die ärmsten Länder und der Verwirklichung sowie Weiterentwicklung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Es braucht einen Endspurt und ambitionierte Folgeziele. Unser Ansatz dafür ist feministisch und dekolonial. Wir wollen eine eigenständige Entwicklungspolitik, die strukturelle Ungerechtigkeiten abbaut und weltweit gleichberechtigte Partnerschaften gestaltet.
Wir unterstützen Länder des Globalen Südens bei ihrem Streben nach gerechter Repräsentanz in internationalen Organisationen – nur so bleiben multilaterale Foren zukunftsfähig. Reformen bei den internationalen Finanzinstitutionen treiben wir voran und gestalten Handelsabkommen fair und nachhaltig.(S.66)
Kanzlerkandidat Robert Habeck, Spitzenkandidatin Annalena Baerbock und deren Sicht auf China
Eine stärkere Rolle Deutschlands in Europa, um die demokratischen Werte gegenüber China und Russland zu verteidigen, forderte Herr Habeck jüngst bei einer Veranstaltung der Frankfurter Allgemeine Zeitung:
Deutschland muss in Europa eine dienende Führung übernehmen, um den eigenen deutschen, europäischen Weg der liberalen Demokratie zu verteidigen.
Deutschland und die Welt seien gerade „fundamentalen Machtverschiebungen“ und „tiefgreifenden Veränderungen ausgesetzt“, betont der „Bündniskanzler“ Anfang des Jahres im Gespräch mit dem Spiegel.
In der oftmals erwähnten systemischen Auseinandersetzung fordert er daher eine „Machtpolitik für die Demokratie“. Mit Blick auf China bedeute das, die „einseitige Abhängigkeit ebenfalls überwinden und uns breiter aufstellen“. Die kritische Infrastruktur des Landes dürfe man China „nicht anvertrauen“, denn:
Pekings Gesetze sehen vor, dass Firmen sämtliche Daten ihrer Kunden dem Staat übermitteln müssen. Ich habe nicht den Eindruck, dass alle hier bei uns das verstanden haben.
Erstmals in seiner Amtszeit besuchte der Wirtschaftsminister China im Juli 2024.
Der Wirtschaftsminister heute zu Gast auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos.
Frau Baerbock und China: „Dialog und Härte“
Als Außenministerin („die Haltung zeigt, wo andere zaudern“) Annalena Baerbock Ende 2021 ihr Amt antrat, lautete das Leitmotiv ihrer wertegeleiteten Außenpolitik China betreffend „Dialog und Härte“. Teil dieses Politikstils war beispielsweise die Diktatoren-Aussage während eines Fernsehinterviews im amerikanischen Sender Fox News im Herbst 2023, die für Aufsehen sorgte:
Sollte Putin diesen Krieg gewinnen, was für ein Zeichen wäre das für andere Diktatoren in der Welt, wie Xi, wie der chinesische Präsident?
Dazu aus Die Woche im Sinoskop (KW38-39/23):
Frau Baerbocks Aussagen machen Widersprüche und Grenzen der sogenannten „wertegeleiteten Außenpolitik“ deutlich. Vor allem handelt die oberste Diplomatin mit Blick auf China erneut undiplomatisch und zerschlägt mit dem grünen Vorschlaghammer Porzellan. Heftige Kritik kam aus der deutschen Wirtschaft und zurecht darf am Nutzen des kurzsichtigen „Klartext-Stils“ der Außenministerin gezweifelt werden.
Ganz diplomatisch bzw. sichtlich wortkarger gab die Außenministerin sich im Nachhinein, als sie in der Sendung Maischberger auf das Thema angesprochen wurde: „Ich habe mich geäußert, wie ich mich geäußert habe und die Chinesen haben reagiert, wie sie reagiert haben.“
Dazu passend zitierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Februar 2024 einen „gut vernetzten“ deutschen Manager in China:
Jeder Satz eines grünen Kabinettsmitglieds zu China koste die deutsche Wirtschaft viel Geld.
Während ihrer Amtszeit reiste Frau Baerbock mehrmals zu Gesprächen in die Volksrepublik. Zuletzt war sie für nicht einmal 24 Stunden im Dezember letzten Jahres in Peking und musste dort alleine vor die Presse treten.
An der Ausarbeitung der ersten China-Strategie Deutschlands vom Juli 2023 waren die Außenministerin und das Auswärtige Amt maßgeblich beteiligt. Frau Baerbock präsentierte die erste China-Strategie der Bundesregierung im Rahmen einer Veranstaltung der Denkfabrik Merics. Etwa eineinhalb Jahre später zog sie am 20. Januar gemeinsam mit „führenden Experten“ eine Zwischenbilanz.
Wir leben in „stürmischen Zeiten, wo wir uns immer wieder neu aufstellen müssen“, so Frau Baerbock. Die Europäer dürften sich nicht zwischen den USA und China zerreiben lassen, sondern müssten sich als Europäer selbst definieren. Frau Baerbocks Motto:
Europe United statt My Country First.
Bündnis90/Die Grünen und China
Das Wahlprogramm der Grünen setzt sich intensiv mit der Volksrepublik China auseinander und benennt hier eine Vielzahl von Möglichkeiten wie Herausforderungen. Wie bei CDU/CSU und der FDP gilt auch hier der Dreiklang aus Partner, Wettbewerber, Systemrivale mit einem zunehmenden Fokus auf letzterem.
Ein weitere gemeinsamer Nenner mit den politischen Mitbewerbern ist der Schwerpunkt auf innere und äußere Sicherheit. Deutschland müsse in allen Bereichen wehrhafter, resilienter, unabhängiger werden. Die Trennung von Wirtschaft und Politik wollen die Grünen aus sicherheitspolitischer Notwendigkeit verringern, eine europäische Industriepolitik soll gefördert werden. Europa soll souveräner werden, was eine europäische China-Strategie einschließt. Und massive militärische Aufrüstung.
Die Grünen begrüßen eine multipolare Weltordnung (Baerbock: „absolute Chance“) und setzen sich für die Reform bestehender internationaler Organisationen auf Basis der „regelbasierten Ordnung“ ein.
Gleichzeitig sollen die liberale Demokratie und der „European way of life“ geschützt werden, damit wir weiterhin „in Frieden und Freiheit“ leben können. Der Begriff „Kraft“ wird im Wahlprogramm rund 50 Mal, „Frieden“ rund 40 Mal erwähnt.
Und so, wie wir unsere Freiheit und unser Zusammenleben nach innen zu sichern haben, so gilt es in dieser Zeit, unseren Frieden in Freiheit nach außen zu sichern.(S.8)
Die ehemalige Friedenspartei setzt hierzu neben „diplomatischer Kraft“ auf eine vermeintlich dem Zeitgeist und der Zeitenwende entsprechende Realpolitik, die auf Abschreckung durch Stärke setzt.
Weitere Beiträge zur China-Politik deutscher Parteien
#49 China-Politik deutscher Parteien – Bündnis90/Die Grünen (IV)
Quellen:
Bündnis90/Die Grünen, Zusammen Wachsen, https://cms.gruene.de/uploads/assets/20241216_BTW25_Programmentwurf_DINA4_digital.pdf
Robert Habeck, Der Spiegel, https://www.spiegel.de/politik/robert-habeck-im-interview-der-gruenen-kanzlerkandidat-ueber-das-ampel-aus-und-elon-musk-a-51ac42d6-dc8e-4f78-b08b-c29c864da204
Habeck zu Gast bei „Fragen an die Spitzenkandidaten“, https://www.faz.net/aktuell/politik/bundestagswahl/habeck-zu-gast-bei-fragen-an-die-spitzenkandidaten-110226490.html
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