#48 Im Sinoskop: Greater Bay Area / Perlflussdelta China

Greater Bay Area China Perlflussdelta

Die Wahrheit in den Tatsachen suchen

Deng Xiaoping (1904-1997), „Vater“ der chinesischen Wirtschaftsreformen

Inhalt (aktualisiert am 04.02.2023)

Perflussdelta & Hongkong

Aktionsplan für die Region

Vier Trends

Kommentar

China Greater Bay Area – Hongkong im Sog des Perlflussdeltas

Die Proteste in Hongkong gehen auch nach über vier Monaten weiter. Die beteiligten Seiten führen die Auseinandersetzung mit zunehmender Härte und Radikalität. Eine friedliche Lösung des Konflikts, bei dem sowohl die Einwohner der Sonderverwaltungszone als auch die politisch Verantwortlichen ihr Gesicht wahren können, ist weiterhin nicht in Sicht.

Deutlich sichtbar hingegen sind die Entwicklungen blickt man auf die direkte Nachbarschaft der ehemaligen britischen Kolonie. Im Sinoskop: Das Perlflussdelta / die Greater Bay Area.

Die größte Megalopolis der Welt

Das Perlflussdelta in der Provinz Guangdong ist seit Jahrzehnten der Wirtschaftsmotor der Volksrepublik China. Nach dem Willen der Kommunistischen Partei (KP) in Peking und in Einklang mit den Xi Jinping-Gedanken zum Sozialismus mit chinesischen Eigenschaften für die neue Ära sollen die Sonderverwaltungszonen (SVZ) Hongkong und Macao in die Region integriert werden und darin aufgehen.


Siehe dazu auch

#37 “Xi Jinping-Gedanken über den Sozialismus chinesischer Prägung für eine neue Ära”.

#37 “Xi Jinping-Gedanken über den Sozialismus chinesischer Prägung für eine neue Ära”


Das Perlflussdelta war schon lange vor Xi Jingping die „Fabrik Asiens“ oder die „Werkbank der Welt“. Nach dem Tod Mao Zedongs profitierte die südchinesische Region besonders von Deng Xiaopings Wirtschaftsreformen Ende der 1970er Jahre und wurde so Chinas Tor zur Welt. Mit Dengs berühmter „Reise in den Süden“ 1992 wurde die wirtschaftliche Öffnung des Landes, und speziell die der Sonderwirtschaftszonen im Perlflussdelta, weiter vorangetrieben.

Innerhalb weniger Jahrzehnte entwickelte sich die Region zu einem der stärksten Wirtschaftszentren der Welt. Millionen Wanderarbeiter fanden in den Fabriken Beschäftigung, jedoch oftmals zu Hungerlöhnen und unter katastrophalen Bedingungen. Weiterer Preis für die rasante wirtschaftliche Entwicklung zur Werkbank der Welt war und ist die massive Umweltverschmutzung.

Im Land der Superlative soll die Phase der exportbasierten Konsumgüterproduktion schon bald der Vergangenheit angehören. Die Produzenten im Perlflussdelta sollen stattdessen den inländischen Markt bedienen. Zudem wandelt sich die Region längst von einem Standort der verarbeitenden Industrieproduktion zu einem globalen Innovationszentrum für Hochtechnologie. Die Transformation zum „Silicon Valley“ Chinas ist bereits heute Wirklichkeit.

Perflussdelta: Zukunftslabor Shenzhen

Beispiel Shenzhen: Bis in die 1980er Jahre noch ein einfaches Fischerdorf ohne Rang und Namen mit ein paar Zehntausend Einwohnern, ist die Sonderwirtschaftszone innerhalb weniger Jahrzehnte zu einer hochmodernen Metropole mit offiziell 13 Mio.  – inoffiziell gut 23 Mio. –Einwohnern angewachsen. International erfolgreiche Elektronik- und Technologiekonzerne wie Tencent, ZTE, UBtech und TCL sind dort beheimatet. Und natürlich der Telekommunikationsgigant Huawei.

Neben Shenzhen sind acht weitere Millionenstädte Städte Teil des Ballungsraums namens Greater Bay Area: Guangzhou, Foshan, Dongguan, Huizhou, Zhongshan, Zhuhai, Jiangman und Zhaoqing. Außerdem die beiden SVZ Macao und Hongkong.

China Greater Bay Area – Von der Werkbank der Welt zum Hightech-Ballungssraum

Heute zählt die Region in Guangdong neben San Francisco, New York und Tokyo zu den vier größten Zentren für Wirtschaft, Finanzen und Technologie weltweit. Laut Handelsblatt erwirtschafteten die 71,2 Millionen Einwohner der “Greater Bay Area” in China im vergangenen Jahr mit 1.640 Mrd. US$ stolze 11,8% des chinesischen Bruttoinlandsprodukts (BIP). 2018 wurden Waren in der Menge von 74,4 Millionen TEU (= Zwanzig-Fuß-Standardcontainer) umgeschlagen, der Großteil davon an den Häfen Shenzhen, Guangzhou und Hongkong. Zum Vergleich: Der Containerumschlag der deutschen Häfen in Hamburg und Duisburg betrug im Vorjahr 8,7 Mio., bzw. 4,1 Mio. TEU.

Wirtschaftliche Freiheit und privates Unternehmertum

Wirtschaftliche Freiheit und privates Unternehmertum begründeten den rasanten Aufstieg des Perlflussdeltas. Der Anteil von Staatsbetrieben ist gering, der von aus dem Ausland finanzierten Firmen dagegen sehr hoch. Seit einem Jahrzehnt unterstützt die Führung der KP  die Region politisch und treibt den strukturellen Wandel zur „Megacity der Zukunft“ gezielt voran:

  • 2009 Die Regierungen von Guangdong, Hongkong und Macao beschließen die wirtschaftliche Entwicklung des Perlflussdeltas
  • 2010 Erste Studie zum Aktionsplan wird erstellt
  • 2016 Idee eines „City Clusters“ wird im 13. Fünfjahresplan der KP erwähnt
  • 2017 Premierminister Li Keqiang nennt Pläne zur Entwicklung des Perlflussdeltas auf dem 12. Nationalen Volkskongress
  • 2017 Staatspräsident Xi Jinping erklärt den Ausbau des Perlflussdeltas auf dem 19. Nationalkongress der KP zur Priorität
  • 2018 Li Keqiang verkündet baldigen Aktionsplan
  • 2019 Der Aktionsplan wird im Februar veröffentlicht

Laut Aktionsplan stärkt die Umsetzung der Nationalen Strategie zur Entwicklung des Perlflussdeltas das Prinzip “Ein Land, zwei Systeme”. Durch die verstärkte Kooperation zwischen dem Festland und beiden SVZ komme es zu positiven sozioökonomischen Entwicklungen für Hongkong und Macao. Zum Beispiel durch mehr Möglichkeiten, auf dem Festland zu arbeiten. Vor allem aber führe die Umsetzung des Plans zu langfristiger Stabilität und Wohlstand.

Alles nach Plan – sechs Prinzipien und sieben Kernbereiche

Die planmäßig Entwicklung des Perlflussdeltas zum führenden Hochtechnogiestandort basiert auf sechs Prinzipien:

  • Von Innovationen getrieben und von Reformen geleitet
  • eine koordinierte Entwicklung und ganzheitliche Planung
  • Umsetzung einer „grünen“ Entwicklung und ökologischer Schutz
  • Weitere Öffnung und Zusammenarbeit für Win-Win-Ergebnisse
  • Die Vorteile der Entwicklung teilen und die Lebensgrundlage der Menschen verbessern
  • Sich an “Ein Land, zwei Systeme” halten und in Übereinstimmung mit dem Gesetz handeln

Anwendung finden sollen diese Prinzipien in sieben Entwicklungsfeldern:

  • Entwicklung eines internationalen Zentrums für Innovation und Technologie
  • Beschleunigung der infrastrukturellen Konnektivität
  • Aufbau eines weltweit wettbewerbsfähigen modernen Industriesystems
  • Vorantreiben des ökologischen Umweltschutzes
  • Entwicklung eines hochwertigen Lebenskreises zum Leben, Arbeiten und Reisen
  • Stärkung der Zusammenarbeit und gemeinsame Teilnahme an der „Belt and Road-Initiative“
  • Gemeinsame Entwicklung von Kooperationsplattformen zwischen Guangdong, Hongkong und Macao

Der aktuelle Aktionsplan für die Greater Bay Area in China umfasst den Zeitraum bis 2022 und langfristig bis 2035.

Der China-Korrepondent des SPIEGEL unternahm dieses Jahr seine eigene Reise in den Süden und verschafft in diesem kurzen und sehenswertem Video Einblicke in die Megalopolis der Zukunft, die bereits heute Realität ist.

Auf dem Weg weg von Fabriken, die Güter für den Export herstellen, hin zum Innovationstreiber hebt der Economist in einem Sonderbericht zum Perlflussdelta von 2017 vier Trends hervor:

1. Diversifizierung: Trotz Abwanderung wegen gestiegener Lohnkosten und Arbeitskräftemangel existieren viele Firmen in der Region. Diese haben in den letzten Jahrzehnten enge Industrienetzwerke zwischen Zulieferern, Händlern und Arbeitern aus verschiedenen Bereichen gebildet. Da die Infrastruktur der Lieferketten für den Export ausgelegt ist und der Umbau zu einem stärkeren Fokus auf den heimischen Markt im Vordergrund steht, sei Diversifizierung nötig und findet auch statt.

2. Integration: Die Hongkong-Zhuhai-Macao Brücke (siehe auch #25) ist das jüngste Beispiel für das Zusammenwachsen der Region. Eine Zielvorgabe des Fünfjahresplans von 2016 ist, dass die Städte im Perlflussdelta innerhalb einer Stunde erreichbar sein sollen. Der “one hour transport cycle” wird durch den Bau neuer Straßen, Bahnstrecken für Hochgeschwindigkeitszüge und von U-Bahnnetzen Wirklichkeit.

3. Automatisierung: Als Teil des nationalen Plans zur Aufwertung der Produktion unterstützt die Regionalregierung die Umstellung der Fabriken. “Co bots” wird die Hybrid-Fließbandarbeit zwischen Mensch und Maschine genannt. 2015 waren es 50 Roboter je 10 000 Fabrikarbeiter (in Deutschland betrug die Roboterdichte 300). Der Asia Times zufolge ist China seit Jahren der größte Markt für Industrieroboter. 2018 betrug die Roboterdichte bereits 140 je 10 000 Fabrikarbeiter, 154 000 Einheiten gingen ans Netz. Auf die Volksrepublik entfallen damit 36% der weltweit in Betrieb genommen Roboter, die restlichen 74% verteilen sich auf Japan, Südkorea, Vereinigte Staaten und Deutschland.

4. Innovation: Das “Silicon Delta” Chinas. Wieder dient Shenzhen, das El Dorado für Start-Ups mit einem inzwischen höherem pro-Kopf Einkommen als in Hongkong, als leuchtendes Beispiel. Die Stadt ist eine der jüngsten Chinas und zieht Uni-Absolventen aus dem ganzen Land an. Der Distrikt Nanshan ist Heimat von 125 Firmen mit einem Marktwert von fast 400 Milliarden US$. Die Investitionen in Forschung&Entwicklung sind mit 4% des BIP doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt. Die Zahl der angemeldeten Patente übersteigt jene in Frankreich oder in Großbritannien.

Kommentar zur Greater Bay Area in China

In den Städten des Perlflussdeltas findet bereits heute die Zukunft statt. In „Smart Cities“ wie Shenzhen ist der Alltag elektrifiziert, vernetzt und mit Sensoren ausgestattet, vom Verkehr bis zu den Mülleimern. Bis 2020 sollen 2 Millionen Kameras an öffentlichen Plätzen der Stadt installiert sein, berichtet Neues Deutschland.

Die Entwicklungen im Perlflussdelta sind auch ein riesiges Experiment für den Umgang mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Kann die Urbanisierung im bevölkerungsreichsten Land der Erde sozial und umweltverträglich gestaltet werden? Der chinesische Staat setzt in sämtlichen Bereichen – z.B. Verkehr, Müll, Energie, Wohnen, Wasserversorgung, Verbrechensbekämpfung – auf den Einsatz moderner Technologien, um so den Herausforderungen Herr zu werden.

Für Hongkong bedeutet der Aufstieg der Städte der Greater Bay Area den eigenen Niedergang. Zwar wird die Insel als Finanzplatz und als „Drachenkopf“ des Perlflussdeltas, als Mittler zwischen dem Festland und dem Rest der Welt, weiterhin von Bedeutung sein. Der gesunkene Anteil des BIP von 16% vor 20 Jahren auf nur noch 2,7% im letzten Jahr verdeutlicht die schwindende Bedeutung für und erhöhte Abhängigkeit vom Festland. Wegen der seit Juni anhaltenden Proteste wird für 2019 wohl überhaupt kein Wirtschaftswachstum erwartet; Hongkong droht eine Rezession.


Siehe dazu auch #57 Hongkong: Demokratie unter Druck.

#57 Hongkong: Demokratie unter Druck


Mit Blick auf die Protestbewegung spielt die Führung der KP unter Xi Jinping weiter auf Zeit. Läuft alles nach den Plänen der Zentralregierung, werden die beiden SVZ zunehmend in die „Greater Bay Area“ integriert und nach den Vorstellungen der KP „Sinisiert“.

Doch da niemand weiß, was die Zukunft bringt,  nehmen die Dinge vielleicht auch einen völlig anderen Lauf.

Mehr zum Thema:

SPON(€): Artikel zum Perlflussdelta

ND: Smart City und ditaler Wandel

WELT(€): Hongkong – Frontstadt im Systemwettbewerb des 21. Jhdt.

SPON: China builds megacity in the Pearl River Delta

KPMG: Studie zur “Greater Bay Area”

WIWO: Artikel zum Perlflussdelta (2014)

Perlflussdelta China Hongkong

Beitragsbild von ClausHansen, PRD, CC BY-SA 2.0


 

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