[…] jetzt ist 2019, es sind erst 22 Jahre seit der Übergabe vergangen, und es gilt schon jetzt nicht mehr „Ein Land, zwei Systeme“. Es herrscht nur noch das Prinzip „Ein Land, 1,3 Systeme“. Unsere Demokratie wurde in den letzten 22 Jahren von Peking entwertet. Daher sollten wir jetzt nicht über 2047 reden.
Aktivistin Agnes Chow Ting in der Welt (26.08.19)
Proteste in Hongkong (I)
Seit Juni laufen die Proteste gegen den wachsenden Einfluß der chinesischen Regierung und für demokratische Rechte. Die Krise in Hongkong geht in den dritten Monat (siehe auch #35). Ein Ende ist nicht in Sicht, vielmehr verhärten sich die Fronten zusehends. Der Druck der chinesischen Regierung steigt. Dennoch demonstrieren Hunderttausende, manchmal über eine Million Einwohner der Sonderverwaltungszone weiter für ihre Zukunft.
In den vergangenen Wochen erlebte die Finanzmetropole einen Generalstreik und eine mehrtägige Besetzung des Flughafens. Und fast täglich finden Demonstrationen in verschiedenen Stadtteilen statt. Auch das pro-chinesische Lager ist aktiv und hält mit eigenen Gegendemonstrationen dagegen.
Die Entwicklungen in Hongkong schlagen hohe Wellen. Ein kurzer Überblick.
Proteste in Hongkong: Zwei Lager mit verhärteten Fronten
Die Proteste in Hongkong verlaufen größtenteils friedlich und repräsentieren weite Teile der Gesellschaft. Am Generalstreik nahmen unter anderem Beamte und Erzieher, Mitarbeiter aus dem Finanzsektor und von Fluggesellschaften teil. Um an den Aktionen teilnehmen zu können, nehmen berufstätige Urlaub oder lassen sich krank schreiben. Sie gehen damit das Risiko ein, ihren Arbeitsplatz wegen der Teilnahme an einem politischen Streik zu verlieren.
Gleichzeitig kam es bei Polizei und Demonstranten zu einer Radikalisierung mit steigender Gewaltbereitschaft. Mit Straßenbarrikaden, Straßenkampf-tauglicher Ausrüstung stellen sich vorwiegend sehr junge Hongkonger den Einheiten der Polizei entgegen. Die Aktivisten in den schwarzen T-Shirts sind die sogenannten Frontkämpfer der Bewegung.
Immer häufiger stehen die Demonstrierenden auch Schlägertrupps in weißen T-Shirts gegenüber, vermutlich angeheuert um bestimmte Interessen auf der Straße durchzusetzen.
Die Polizei setzt zunehmend Tränengas, Gummigeschoße und Wasserwerfer ein. Dieses Vorgehen wird von vielen Hongkongern als zu hart empfunden und heizt die angespannte Lage weiter an. Die Besetzung des Flughafens war eine Frustreaktion auf die Polizeigewalt, sagen die Aktivisten. Medienwirksam entschuldigte die Bewegung sich für das teilweise gewalttätige Verhalten und gelobte, weitere Eskalationen vermeiden zu wollen.
Der Frust entlud sich auch durch die Belagerung von Polizeistationen und dem Verbindungsbüro der Volksrepublik China. Eier flogen, chinesische Flaggen wurden zerstört. In anderen Stadtteilen machen vermeintlich Peking-treue Schläger Jagd auf Demonstranten, als Zeichen der Unterstützung befestigen Taxifahrer chinesische Flaggen an ihren Fahrzeugen.
Zahl der Verhafteten bald vierstellig
Mehrere Hundert Menschen wurden bisher verhaftet und deren Zahl steigt. Ebenso gibt bei Zusammenstößen immer wieder zahlreiche Verletzte auf beiden Seiten. Eine Demonstrantin verlor eines ihrer Augen durch ein Gummigeschoss. Ein Polizist schoss beinahe mit scharfer Munition auf Demonstranten. Ende August kam nun auch erstmals ein Wasserwerfer gegen die Demonstranten zum Einsatz. Von deren Seite sollen Molotov-Cocktails geflogen sein.
Unter inzwischen den fast 1000 Verhafteten wurden Dutzende wegen „Aufruhrs“ angeklagt. Ihnen drohen hohe Haftstrafen von bis zu 10 Jahren. Deren Prozesse sind für September angesetzt. Bis dahin sind die vermeintlichen „Aufrührer“ auf Kaution frei. Sie müssen sich wöchentlich bei der Polizei melden, dürfen das Land nicht verlassen und nachts nicht mehr außer Haus.
Digitale Rasterfahndung
Im Kampf gegen die führungslos und dezentral organisierten Protestbewegung setzt die Staatsgewalt voll auf moderne Technik und eine digitale Rasterfahndung. Mit Big Data werden Bewegungsmuster erstellt, per Kameraüberwachung und Gesichtserkennung können Identitäten ermittelt werden. Anhand der Daten sollen Aktivisten eingeschüchtert, ausgespäht, und verhaftet werden.
Die Demonstranten halten dagegen, so gut sie können. Sie schwenken Laserpointer mit denen sie die Gesichtserkennung der Kameras stören. Ihre Telefone umwickeln sie mit Alufolie, um sie abhörsicher zu machen. Nachrichten werden offline ausgetauscht, Fahrkarten werden ohne Karte in Bar bezahlt. Um unerkannt zu bleiben, verzichten Aktivisten auf die Fahrt mit der U-Bahn und fahren stattdessen mit dem Bus. Dort gibt es keine Überwachungskameras.
Im Ringen um die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit und zur Vermeidung einer weiteren Eskalation der Gewalt greifen sie zu immer neue Formen des friedlichen Protests. Zuletzt bildeteten Zigtausende eine mehr als 40 Kilometer lange Menschenkette durch die Stadt. Vorbild des „Hong Kong Way“ waren die Menschenketten im Baltikum 1989.
Die nächste Großdemonstration ist für den 31. August geplant. Im September beginnt der Unterricht an Schulen und Universitäten wieder. Viele Demonstrierende haben bereits einen Boykott für die Zeit nach den Sommerferien angekündigt. Sie wollen weiter auf die Straße gehen.
Die fünf Forderungen der Demonstranten:
- Rücknahme des Auslieferungsgesetzes
- Keine Strafverfolgung der verhafteten Demonstranten
- Kein „Aufruhr“ sondern legale Demonstrationen
- Unabhängige Untersuchung des Vorgehens der Polizei
- Einführung des allgemeinen Wahlrechts
Drei mögliche Szenarien:
- Lam macht bei den fünf Forderungen Zugeständnisse und tritt zurück.
- Die Regierung erhöht den Druck, ruft das Kriegsrecht oder den Notstand aus (zuletzt 1967 unter britischer Verwaltung) und bittet Peking um Hilfe
- Die Proteste in Hongkong weiter laufen lassen in der Hoffnung, dass diese sich erschöpfen
Mehr zu den Protesten in Hongkong:
ZEIT: Denn Sie wissen, was sie tun
ARTE: Videobeiträge zur Protestbewegung
DRADIO: Hongkong stirbt, wir machen weiter
WELT: Interview mit Agnes Chow Ting
Antworten