#108 „Normalität“ in Xinjiang? Ja, meinen zwei deutsche Sinologen

Xinjiang China Entwicklung
Beispiele für mazar-Schreine in Xinjiang, die seit 2017 zerstört wurden. (Quelle: ASPI-Studie vom 24. September 2020). Anglo-Araneophilus~commonswiki, CC BY-SA 3.0 , Wikimedia Commons

Ergänzter Kommentar aus Die Woche im Sinoskop (KW37/23) zum Meinungsbeitrag der Sinologen Schmidt-Glintzer und Heberer in der Neuen Zürcher Zeitung vom 11. September 2023.

(aktualisiert am 16.09.2023)

Xinjiang: Rückkehr zur „Normalität“?

„Deutliche Anzeichen einer Rückkehr zur Normalität“ seien erkennbar, schreiben die Sinologen Herr Schmidt-Glintzer und Herr Heberer in einem Meinungsbeitrag in der NZZ.

Auf „eigene Initiative“ hätten sich die Sinologen auf einer Xinjiang-Reise im Mai 2023 ein Bild der aktuellen Lage in der Provinz gemacht. Es sind durchweg gute Nachrichten, welche die beiden für eher KP-freundliche Positionen bekannten Wissenschaftler von dort mitbringen.

Es ist der Partei gelungen, China zusammenzuhalten und zugleich zu einem Teil der Weltgesellschaft werden zu lassen,

sagte Herr Schmidt-Glintzer beispielsweise mit Blick auf Chinas Null-Covid-Politik 2021 in der Beijing Rundschau, einem staatlichen Medium.

In einem 2010 erschienenen Buch schrieb Herr Heberer, China sei

keineswegs eine politisch wandlungsresistente Diktatur mit einem im Innern und Äußeren rücksichtslos agierenden Staat, wie im Westen häufig behauptet wird.

In der NZZ schreiben die beiden Autoren jetzt, die Xinjiang-Politik der letzten Jahre sei eine „Übergangsphase“ gewesen, zu der sich Peking aufgrund der Gefahr des islamistischen Terrors gezwungen gesehen habe. Die uigurische Bevölkerung hätte selbst unter dem Terror radikalisierter Landsleute gelitten; nicht zuletzt stand die „innere Sicherheit der ganzes Landes“ auf dem Spiel.

Chinas Erzählung einer Win-Win-Erfolgsgeschichte

Heute sind diese Probleme scheinbar Schnee von gestern. Die jüngste Politik der KP würde „unübersehbar“ von der Bevölkerung begrüßt, aufgrund der „Modernisierungen in Bildung, medizinischer Versorgung und Arbeit“.

Schenkt man den Worten der Autoren Glauben, lassen sich die Maßnahmen der Zentralregierung zur Entwicklung Xinjiangs durchweg als Erfolgsgeschichte lesen. Die Beobachtungen von Herrn Schmidt-Glintzer und Herrn Heberer sind dabei wunderbar deckungsgleich mit dem Narrativ der KP. Stichwort Framing.

Dieser Logik folgend handelt es sich auch in Xinjiang um eine weitere Win-Win-Situation. Das Zentrum in Peking treibt die Entwicklung voran und schenkt den Menschen im peripheren und unterentwickelten Xinjiang die Moderne. Dabei stehe die „Institutionalisierung des Rechts“ im Vordergrund. Daher sollten die seitens der EU gegen China verhängten Sanktionen ebenfalls „überdacht“ werden.

Veröffentlicht wurde der Beitrag zufälligerweise am 11. September, dem 22. Jahrestag der Terroranschläge auf die USA. Es folgte der verheerende, vom damaligen US-Präsident Bush ausgerufene „Krieg gegen den Terror“. Auch die Führung der Volksrepublik China legitimiert seither das harte Vorgehen in Xinjiang mit dem „Krieg gegen den Terror“.

Chinas Geschichte gut erzählen – das „wahre“ Xinjiang

Diese „wahre“ Xinjiang und die dortige heile Welt sollen auch die vielen Videos zeigen, welche z.B. auf X geteilt werden. X, In China verboten, außerhalb des Landes beliebtes Mittel der KP zur Verbreitung von vermeintlicher Fakten und Wahrheiten.

Vor kurzem wurde ein Video über das „wahre Xinjiang“ geteilt, in dem eine junge Frau in Polizeiuniform auf einem belebten Platz tanzt. Viele dieser Videos und die darin vorkommenden „Influencer“ werden immer wieder als unecht und durch die Partei beauftragt entlarvt.

(Screenshot: X)

Chinas „Beautiful Xinjiang“

„Beautiful Xinjiang“ ist ein weiterer, häufig genutzter Ausdruck der Regierung, um die Region zu bewerben. Xinjiang wird in vielen dieser Videos als eine Art riesiger Vergnügungs- und Abenteuerpark dargestellt. Exotisch, aber nicht mehr gefährlich. Der Tourismus floriert wieder und soll weiter wachsen. Die uigurische Bevölkerung wirkt dabei oftmals wie ein auf Folklore reduziertes Zierat. Man sieht singende, tanzende und lachende Menschen.

Auch die beiden deutschen China-Experten lassen sich in meinen Augen vor den Karren dieser Xinjiang-Erzählung spannen. Indem sie manches Problem zwar kurz erwähnen, diese jedoch einer einseitigen Erzählung unterordnen, in der wesentliche Aspekte einfach unerwähnt bleiben. Stichwort Sinisierung.

Nicht zuletzt darf man sich fragen, wie die Gruppe auf „eigene Initiative“ in eine Region reist, in die man schon lange nicht mehr einfach mal so reisen kann. Dies ist lange schon nur „eingebettet“ und für die sogenannten „Freunde Chinas“ möglich.

Chinas Regierung duldet keine Kritik

Außer, sie kommt von ihr selbst. So teilte die chinesische Botschaft diese Woche in einem Leserbrief in der FAZ zum Thema Xinjiang kräftig aus. Hintergrund ist die Gründung eines „Parlamentskreis Uiguren“ des FDP-Politikers Heidt, dem auch Abgeordnete von SPD, Grünen und CDU angehören.

Die Vorgehensweise ist dabei immer gleich: in China geht alles mit rechten Dingen zu, Fehler kommen praktisch nicht vor. Wer anderes behauptet, der versteht China entweder nicht oder lügt. Und muss prompt mit einer verbalen Retourkutsche rechnen, welche sich von chinesischer Seite beliebig ausweiten lässt, z.B. durch Beschränkungen im Handel etc.

Die chinesische Botschaft beklagt, dass es von „Ignoranz und Unwahrheiten nur so wimmelt“ und weist die „Lügen deutscher Abgeordneter über Xinjiang zurück“:

Erstens, Peter Heidt verleumdet China, indem er behauptet, es werde eine „Assimilation“ der nationalen Minderheiten durchgeführt und der Deutsche Bundestag sollte ein „Genozid“ in Xinjiang feststellen. Tatsache ist aber, dass […] Sitten, Bräuche und Sprachen als wichtiger Teil der chinesischen Kultur respektiert und gesetzlich geschützt werden. Um die Entwicklung der Regionen zu fördern, in denen vorwiegend nationale Minderheiten leben, hat China verschiedene Förderprogramme eingeführt. […]

Zweitens, Peter Heidt ignoriert den eigentlichen Zweck der Berufsbildungszentren in Xinjiang und eigenwillig sie als „Konzentrationslager“ bezeichnet. Diese Zentren haben Menschen geholfen, die sich von extremistischem Gedankengut haben beeinflussen lassen, sich von radikaler Ideologie loszusagen und sie durch Qualifizierungsmaßnahmen wieder in den Arbeitsmarkt bzw. in die Gesellschaft zu integrieren. Die besagten Einrichtungen wurden bereits wieder geschlossen, nachdem sie positive Ergebnisse bei der De-Radikalisierung erzielt haben.

Drittens, Peter Heidt redet antichinesischen Separatisten nach dem Mund  und versucht, die Lügen über Xinjiang zu steigern, indem er den Begriff „Konzentrationslager“ benutzt, der speziell sich auf die NZ-Vernichtung der Juden im Zweiten Weltkrieg bezieht. Diese Effekthascherei aus politischem Eigennutz zeugt von einer historischen Unkenntnis und politischer Oberflächlichkeit bzw. Schamlosigkei. Chinas Position ist unverändert und klar: China ist bereit, sich mit jedem auf Augenhöhe über Menschenrechte und andere Themen auszutauschen, lehnt aber wahrheitsverzerrende Verleumdungen entschieden ab. China duldet auch keinen Versuch, die historische Schuld Deutschlands im Zweiten Weltkrieg zu verharmlosen.

(Quelle: Webseite der chinesischen Botschaft)

Ein einseitiges Xinjiang-Bild

Um im Jahr 2023 ungefilterte und unzensierte Einblicke und Informationen aus China im Allgemeinen und aus Regionen wie Xinjiang oder Tibet im speziellen zu erhalten, ist sehr schwierig bis kaum möglich geworden. Die staatliche Kontrolle hat enorm zugenommen. Besonders das Thema Xinjiang wird dabei seit Jahren auch von verschiedenen Seiten instrumentalisiert, um die jeweiligen Interessen voranzubringen. Das einseitige Bild der Pekinger Xinjiang-Politik, welches die beiden deutschen Sinologen vermitteln, ist Teil dieser Problematik.

„An Zynismus nicht mehr zu übertreffen,“ kritisiert die Uigurische-Diaspora den Beitrag wenige Tage später in einem Leserbrief in der NZZ. Die Politik Pekings der vergangenen sieben Jahre in „Ostturkestan“ wird als „Genozidpolitik“ bezeichnet. Xi Jinping ginge es nicht vorrangig um Terrorismusbekämpfung, sondern um „die Auslöschung des uigurischen Volkes.“

Der Sinologe Björn Alpermann kommentiert hinsichtlich der Verharmlosung dieser Politik auf X:

Den Begriff [Normalität] nur in Anführungszeichen zu setzen, verschleiert die Brutalität dieses Vorgehens.

In seinem Vorwort zu „Wiedersehen mit Tibet“, in dem Heinrich Harrer von seiner Rückkehr ins tibetische Hochland nach 30 Jahren erzählt, beschreibt er eine Entwicklung, die sich auch auf die Region Xinjiang übertragen lässt:

Man wird mir zubilligen, dass ich dem von den Chinesen in Szene gesetzten „Tauwetter“ kritischer gegenüberstehe, denn mir klingen die Worte „alles Tsüma“, „alles Schein“, die mir Freunde in Lhasa zuraunten, immer noch in den Ohren.

(Quelle: „Wiedersehen mit Tibet“, Heinrich Harrer, Ullstein, 1983.)

Ob in Xinjiang, Tibet, der Inneren Mongolei, Hongkong oder anderen Regionen mit großer Bevölkerung, die keine Han sind. Stets stellt sich die Frage, von welcher „Normalität“ die Rede ist. In der Geschichte war, und ist auch heute noch, meist die Normalität aus Sicht der Nation, des Nationalismus und des Nationalstaats gemeint. Dabei haben ethnische Minderheiten, gelinde ausgedrückt, in der Regel das Nachsehen. Und das nicht nur in China.

Mehr zum Thema:

GUARDIAN: China’s push to promote state-approved version of Uyghur culture

Bilderserie aus der „Old Kashgar Tourist Area“.

HRW: China’s ‘Beautiful Xinjiang’ Continues to Oppress Uighurs

As Beijing Tries to Convince the World That the Xinjiang Region Has Moved On, Its Uighur Residents Continue to Suffer

FAZ: FDP-Politiker Heidt: „China muss die Lager in Xinjiang schließen“

Mit Abgeordneten von SPD, Grünen und CDU gründete der FDP-Politiker Peter Heidt den „Parlamentskreis Uiguren“.

#76 Das Xinjiang-Narrativ: Eine Gegenüberstellung

#51 Xi, Xiplomatie, Xinjiang und die China Cables

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