#76 Das Xinjiang-Narrativ: Eine Gegenüberstellung

Xinjiang Narrativ China
新疆 - Xinjiang - شینجاڭ

After a visit to Xinjiang in April 2014 […] Mr. Xi called for an all-out “struggle against terrorism, infiltration and separatism” using the “organs of dictatorship,” and showing “absolutely no mercy.”

(Nach einem Besuch in Xinjiang 2014 rief Xi Jinping zu einem allumfassenden „Kampf gegen Terrorismus, Unterwanderung und Separatismus“ auf, die „Organe der Diktatur“ nutzend und „absolut keine Gnade“ zeigend.)

„The Xinjiang Papers“, The New York Times, November 2019.

Inhalt

Das Xinjiang-Narrativ: Gegenüberstellung

Das Xinjiang-Narrativ in China

Das Xinjiang-Narrativ im Westen

Kommentar

Das Xinjiang-Narrativ: Gegenüberstellung

Innerhalb der westlichen Welt kommt es immer wieder zu Vorwürfen gegenüber der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) und deren Umgang mit der in Xinjiang beheimateten ethnischen Minderheit der Uiguren.

Im Ringen um die Deutungshoheit in der (westlichen) öffentlichen Wahrnehmung zu den Realitäten in der Nordwestchinesischen Provinz Xinjiang gibt es vereinfacht dargestellt zwei Hauptakteure bzw. Sichtweisen.

Zum einen ist da der chinesische Staat, vertreten durch die KPCh, mit ihrem Narrativ der Terrorismus- und Armutsbekämpfung.

Zum anderen ist da der deutsche Anthropologe und Sozialwissenschaftler Adrian Zenz, der von einem „kulturellen Genozid“ am Volk der Uiguren spricht.

Eine große Rolle als Informationsquelle spielen hier die „China Cables“, eine Reihe parteiinterner Dokumente aus den Jahren 2017 und 2018, die an das Internationale Netzwerk investigativer Journalisten weitergereicht wurden.


Xinjiang-Narrativ, siehe auch #51 Xi, Xiplomatie, Xinjiang und die China Cables:

#51 Xi, Xiplomatie, Xinjiang und die China Cables



Mitte Dezember 2020 sorgte ein neuer Bericht, den Herr Zenz im Auftrag des Center for Global Policy in Washington veröffentlicht hat, für Aufsehen. Der Vorwurf: Hunderttausende Uiguren sollen zwangsweise bei der Baumwollernte eingesetzt worden sein (SZ). Auch die BBC berichtete über die Vorwürfe vermeintlicher Zwangsarbeit in Xinjiang.

Nachfolgend eine unvollständige Gegenüberstellung zum Xinjiang-Narrativ mit beiden Extrempositionen, deren Multiplikatoren, sowie vorhandenen Lücken in den jeweiligen Narrativen.

Stellungnahme des chin. Außenministeriums zu Zwangsarbeit-Vorwürfen

Der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, Wang Wenbin, nahm am 15.12. während der täglichen Pressekonferenz Stellung zur vermeintlichen Zwangsarbeit während der Baumwollernte in Xinjiang (gekürzt):

Gemäß den Gesetzen […] schließen chinesische Bürger freiwillig Verträge mit ihren Arbeitgebern auf der Basis von Gleichheit und Konsens und erhalten dafür eine angemessene Bezahlung. Es gibt keine „Zwangsarbeit“, wie von einigen mit Hintergedanken behauptet wird.

Menschen aller ethnischen Gruppen zu helfen, eine stabile Beschäftigung zu finden, ist etwas völlig anderes als „Zwangsarbeit“. […] Alle ethnischen Gruppen in Xinjiang wählen ihre Berufe nach eigenem Willen […]. Sie werden nicht aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihres Geschlechts oder ihrer religiösen Überzeugung diskriminiert. Die Regierungen auf allen Ebenen in Xinjiang respektieren den Willen der Angehörigen ethnischer Minderheiten bei der Wahl ihres Arbeitsplatzes in vollem Umfang und bieten Schulungen für diejenigen an, die ihre für eine Beschäftigung erforderlichen Fähigkeiten verbessern wollen. […] Bis Ende 2019 konnten insgesamt 2,9232 Mio. Menschen in Xinjiang aus der Armut befreit werden, und die Armutsquote ist von 19,4% im Jahr 2014 auf 1,24% gesunken.

In dem Bericht, von dem Sie sprachen, wurden die sogenannten Aufnahmen von „Umerziehungszentren“ erwähnt. Einige westliche Medien halten absurderweise jedes ummauerte Gebäude in Xinjiang für ein „Internierungszentrum“. Aber Tatsache ist, dass es sich dabei um zivile Einrichtungen handelt. Zum Beispiel sind die so genannten „Internierungszentren“ in Tulufan in Wirklichkeit die Gebäude lokaler Verwaltungsbüros, und die „Internierungszentren“ in Kashi sind in Wirklichkeit lokale Schulgebäude, die alle auf Karten von Google und Baidu eingezeichnet sind. Sie alle können sie nachprüfen.

„Die Partei gegen Adrian Zenz“ …

Ich habe festgestellt, dass der Autor dieses Berichts Adrian Zenz ist. Die Medien haben wiederholt enthüllt, dass er Mitglied einer rechtsextremen Organisation ist, die von der US-Regierung gegründet wurde, und ein Schlüsselmitglied eines vom US-Geheimdienst gegründeten Anti-China-Instituts ist, das seinen Lebensunterhalt mit der Erfindung von Gerüchten und Verleumdungen gegen China verdient. Sein so genannter Bericht hat nicht den geringsten Hauch von Glaubwürdigkeit und akademischer Integrität. Ich möchte Ihnen einige seiner Tricks nennen, mit denen er Unwahrheiten verbreitet.

… in vier Punkten:

Erstens: Datenbetrug. In seinem Bericht über die sogenannte Zwangssterilisation behauptet [er], dass „im Jahr 2018 80% aller neu eingeführten IUPs [Anmerkung: intrauterine device/Spirale zur Empfängnisverhütung] in China in Xinjiang durchgeführt wurden“, aber Tatsache ist, dass Xinjiang 2018 laut Chinas Nationaler Gesundheitskommission nur 8,7% der neuen IUPs ausmachte.

 

Zweitens: Erfindungen aus dünner Luft. [Er] fabrizierte eine sogenannte „Karakax (Moyu)-Liste“, in der der am häufigsten genannte Internierungsgrund ein Verstoß gegen die Geburtenkontrolle war. Tatsächlich handelt es sich bei den meisten Personen auf der Liste um Einheimische aus dem Kreis Moyu, die dort ein normales Leben geführt haben. Nur eine sehr kleine Anzahl von Menschen, die von religiösem Extremismus betroffen waren und kleinere Straftaten begangen hatten, erhielten eine Berufsausbildung in Übereinstimmung mit dem Gesetz.

 

Drittens: Haltlose Spekulationen. [Er] behauptete, dass Frauen ethnischer Minderheiten in Xinjiang übermäßig häufig kontrolliert werden, und versuchte, dies als Beweis dafür zu verwenden, dass die chinesische Regierung uigurische Frauen, die ein Kind zur Welt gebracht haben, zwangssterilisiert hat. Aber es gab in seinem Bericht keine Beweise dafür, dass Frauen von der Regierung gezwungen wurden, nach der Geburt eines Kindes IUDs zu verwenden. Seine sogenannte Schlussfolgerung ist nichts anderes als das Produkt seiner eigenen wilden Vermutungen.

 

Viertens: Zahlenspielerei. [Er] behauptete, dass das natürliche Bevölkerungswachstum der Han-Ethnie im Wohnbezirk Gulbagh im Jahr 2018 fast achtmal höher war als im Landkreis Hotan, und benutzte dies als Beispiel, um die sogenannte Politik des „Han-Siedlerkolonialismus“ zu geißeln. Der Vergleich der natürlichen Bevölkerungswachstumsrate zwischen einem Wohnbezirk und einem Landkreis ist demographisch gesehen ohne jeden akademischen Wert. Apropos Fakten, wenn wir die Veränderungen der Han-Bevölkerung und der uigurischen Bevölkerung in Hotan in den Jahren 2017 und 2018 vergleichen, können wir feststellen, dass die Gesamtbevölkerung der Han abnimmt, während die der Uiguren zunimmt. Zenz‘ Behauptung, die chinesische Regierung betreibe eine Politik des „Han-Siedlerkolonialismus“, ist eine komplette Lüge ohne jede sachliche Grundlage.


Quelle: Botschaft der VR China/Aktuelles über die Botschaft (eigene Übersetzung)


Xinjiang-Narrativ, siehe auch:

#8 Im Sinoskop: Gute Nachrichten aus Chinas “wildem Westen”

#36 Xinjiang: Umerziehung, Gehirnwäsche und Big Data


Herr Zenz: In göttlicher Mission gegen den Kommunismus

Dass Herr Zenz Medienberichten zufolge als „einer der weltweit führenden Experten für die Situation in Xinjiang“ gilt, liest man häufig. Dass es sich scheinbar auch um einen bibeltreuen Gläubigen mit evangelikalem Weltbild handelt, liest man eher selten.

Herr Zenz ist tätig an der European School of Culture and Theology in Korntal, Baden-Württemberg. Die Einrichtung ist Teil der Akademie für Weltmission, einer evangelikalen Bildungseinrichtung, welche wiederum der Arbeitsgemeinschaft Evangelikaler Missionen nahesteht, zu der auch die „Chinesische Missionsgemeinschaft“ gehört. Nicht weniger evangelikal ist die Columbia International University in South Carolina, USA, an der Herr Zenz Doktoranden betreut. Außerdem ist er Senior Fellow in China Studies der Victims of Communism Memorial Foundation, Washington (D.C.), sowie Mitglied von IPAC, der Interparliamentary Alliance on China.

Ein lesenwerter Artikel der „Nachdenkseiten“ zur Person Adrian Zenz und dessen Verbindungen von Ende 2019: „Meinungsmache mit einem dubiosen „China-Experten“.

„We all know it: Jesus will come back soon!“

Neben seiner „Berufung“ (FAZ) im Einsatz gegen die Kommunistische Partei Chinas folgt Herr Zenz vor allem dem Ruf Gottes.

Mit den Worten „God called me in the spring of 2011 to join Marlon in writing this book“ beginnt dessen Danksagung im gemeinsam mit Marlon L. Sias veröffentlichten Buch „Worthy to Escape: Why All Believers Will Not Be Raptured Before the Tribulation“ (Würdig zu entkommen: Warum nicht alle Gläubigen vor der Trübsal entrückt werden).

Die Leitplanken dieses evangelikalen Weltbildes werden ab dem ersten Kapitel „Jesus is coming!“ deutlich:

„We all know it: Jesus will come back soon, perhaps sooner than we think.“ [S.1]. Die Vermählung mit Jesus stehe bei dessen Rückkehr an, wenn „Satans Antichrist die größte Verfolgung der gläubigen Gemeinde in der Welt beaufsichtigen wird.“ [S.4].

Weitere Schlagwörter beim Überfliegen dieser schweren Kost ist die „eisernen Rute“ Christi, mit der regiert und ein dadurch eingeläutetes „nie dagewesenes Jahrtausend von Frieden und Gerechtigkeit“ herbeigeführt werde [S. 376].

Passagen aus dem Buch Daniel, Altes Testament, werden sogar als Prophezeiung für das Ende des Hitler-Regimes interpretiert: „As prophesied, Hitler‘s empire was torn away from him, and he was killed and his body burned by his guards.“ [S.367] (Wie prophezeit, wurde Hitlers Reich von ihm weggerissen, und er wurde getötet und sein Körper von seinen Wächtern verbrannt.)

War es also doch nicht Selbstmord?

Um „all die Wahrheiten über die gefährlichen und ereignisreichen Zeiten in denen wir leben“ [S.401] zu verdeutlichen, folgt gegen Ende des Buches ein Zitat aus der Apokalypse, dem letzten Buch des Neuen Testaments:

Seht nun darauf, wie ihr mit Sorgfalt wandelt, nicht als Unweise, sondern als Weise; und kauft die Zeit aus, denn die Tage sind böse. Darum seid nicht unverständig, sondern seid verständig, was der Wille des Herrn ist! Und berauscht euch nicht mit Wein, was Ausschweifung ist, sondern werdet voll Geistes; redet zueinander mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern; singt und spielt dem Herrn in eurem Herzen; sagt allezeit Gott, dem Vater, Dank für alles, in dem Namen unseres Herrn Jesus Christus; ordnet euch einander unter in der Furcht Gottes!

Epheser 5: 15-21.


Quelle: Google books.

https://books.google.de/books?id=lRtSQB3HHJcC&pg=PR4&hl=de&source=gbs_selected_pages&cad=2#v=onepage&q&f=false


Kommentar

Diese unvollständige Gegenüberstellung soll verdeutlichen, dass Zusammenhänge und Hintergründe komplex sind und es beiderseits Lücken in der Darstellung gibt. Narrative von „gut“ und „böse“, sowie deren Multiplikatoren aus „West“ wie „Fernost“, müssen gleichermaßen kritisch hinterfragt werden.

Herr Zenz‘ Forschungserkenntnisse zu den Entwicklungen sind ein zweifellos ein wichtiger Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem Vorgehen der KPCh in Xinjiang.

Problematisch für jede differenzierte Auseinandersetzung ist jedoch die Fokussierung auf wenige oder ausschließlich eine Quelle, die den Diskurs dominiert. Problematisch ist hierbei auch, dass aus ungesicherten Erkenntnissen („Vieles deutet darauf hin…“, „wir wissen grob…“) oftmals allzu schnell Fakten werden, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen.

Außerdem sollte, wer von anderen Transparenz einfordert, auch selbst für Transparenz einstehen. Herr Zenz’ Nähe zu bestimmten Interessengruppen kommt in der medialen Darstellung zu kurz. Kritisch hinterfragt werden darf in diesem Zusammenhang auch dessen Unabhängigkeit in seiner Rolle als Sachverständiger für die Bundesregierung.

Letztlich stellt sich noch die Frage, wie sich ein evangelikales Weltbild (gegen Darwins Evolutionstheorie, vorehelichen Sex, Homosexualität, Abtreibung) mit den Werten einer offenen und aufgeklärten Gesellschaft verträgt, die es doch gegen den vermeintlichen Systemrivalen China zu verteidigen gilt?

Mehr zum Thema Xinjiang:

University of British Columbia: Xinjiang Documentation Project

NewBooksNetwork (Podcast): David Tobin, „Securing China’s Northwest Frontier“

University of Colorado: Darren Byler, Research Articles

NYT: The Xinjiang Papers

BUNDESTAG: Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe: Anhörung zur Lage der Menschenrechte in China

TAZ: Evangelikale in Deutschland


Beitragsbild: English wikipedia. Map of China highlighting the Xinjiang province.

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:China_provinces_xinjiang.png.

https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en.

Sinoskop abonnieren, keinen neuen Beitrag verpassen & exklusiv „Die Woche im Sinoskop“ erhalten!
Du erhältst etwa 1-2 Emails pro Woche. Die Abmeldung ist jederzeit möglich.
Die gespeicherte E-Mail-Adresse wird nicht an Dritte weitergereicht, es werden keine weiteren Daten erhoben oder gespeichert. Weitere Informationen zum Datenschutz findest Du in der Datenschutzerklärung.

2 Kommentare

    • eine angemessene Gegenüberstellung sollte dringend einen Überblick über die gesamte Datenlage und dann deren Einordnung vornehmen. So bleibt es seltsam verrutscht -auch Triangulation von Daten wäre wichtig! Auch von chinesischen Daten in Stellungsnahmen.

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*



Diese Webseite verwendet essentielle Cookies/This website uses essential cookies. Link zur Datenschutzerklärung/Privacy Policy