#55 Coronavirus/COVID19 – Ausnahmezustand weltweit

Coronavirus Covid19

Alles liegt in Menschenhand. Und deshalb sollte man sie oft waschen.

Stanislaw Jerzy Lec (1909-1966)

Coronavirus – Deutschland und die Welt im Ausnahmezustand

Woche Nr.2 mit massiven Ein- und Beschränkungen in fast allen Lebensbereichen. Laut Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) sind in der BRD knapp 62 000 Menschen mit Sars-COVID-19 infiziert (Stand: 31.03.20). Tendenz steigend.

Mit der „Ruhe vor dem Sturm“ beschreibt Gesundheitsminister Spahn die derzeitige Lage. Die Bundeskanzlerin bedankt sich bei der Bevölkerung, mahnt aber gleichzeitig zu Geduld und warnt vor einer frühzeitigen Lockerung.

Land und Leute arrangieren sich mit der gegenwärtigen Ausnahmesituation, die erzwungene Entschleunigung wird größtenteils akzeptiert. Das Argument, die radikalen Maßnahmen dienten nicht nur Risikogruppen und dem Gesundheitssystem, sondern auch dem Schutz jeder und jedes einzelnen, scheint den meisten einzuleuchten. Noch, muss man hinzufügen.

Diese Umstellung dann im Alltag auch umzusetzen zeigt, wie sehr der Mensch von Gewohnheiten geprägt ist und es demnach individuell leichter fällt, länger dauert, oder zusätzlicher Druck notwendig ist.

Quarantäne und Isolation – seit Pestzeiten altbewährte Rezepte zur Eindämmung von Seuchen sollen auch in Deutschland die Verbreitung des neuartigen Coronavirus Covid19 (siehe auch #54) verlangsamen. Als neue Zutaten werden die Möglichkeiten modernster Technik diskutiert. Vorbild China?

#54 COVID19: Deutschland und die Welt im Coronavirus-Pandemie-Fieber

Chinas Coronavirus-Narrativ

In China setzt der Staat seit mehreren Monaten extreme Quarantänemaßnahmen durch. Die über 50 Millionen Menschen in der am stärksten betroffenen Provinz Hubei standen fast zwei Monate lang unter strenger Quarantäne. Seltene Eindrücke aus dem Leben in der „Geisterstadt“ gibt dieses kurze Video der BBC:

Inzwischen hat die Partei begonnen, die Quarantäne in Hubei stückweise aufzuheben. Ab dem 8. April sollen auch die über 10 Millionen Einwohner Wuhans wieder reisen dürfen.

Die Epidemie sei inzwischen „im wesentlichen eingedämmt“, verkündete Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping bereits Mitte März. Offiziellen Statistiken zufolge kommt es praktisch zu keinerlei “einheimischen” Neuinfektionen mehr. Laut Nationaler Gesundheitskommission wurden lediglich 48 neu bestätigte Fälle gemeldet, allesamt “importiert” (Stand: 30.03.20).

Die Kommunistische Partei (KP) hat scheinbar das Unmögliche vollbracht – es grenzt an ein Wunder im bevölkerungsreichsten Land der Welt – und feiert sich dementsprechend selbst.

Risse im staatlichen Narrativ der KP gibt es allerdings auch:

Besuch einer hochrangigen KP-Funktionärin in Wuhan – “Alles nicht echt!”

Menschenleben & ökonomische Interessen – Frage der Verhältnismäßigkeit?

Um die Ausbreitung von COVID-19 zu verlangsamen erdulden zig Millionen Menschen in Ostasien, von Südkorea bis nach Singapur, bereits seit Wochen massivste Einschränkungen des alltäglichen Lebens.

Auch in unserer direkten Nachbarschaft hält der Ausnahmezustand bereits länger an, mit oftmals weitreichenderen Maßnahmen, als dies hierzulande der Fall ist.

In Deutschland liegt über dem Befolgen der wissenschaftlichen Weisungen durch den Staat schon nach wenigen Tagen eine spürbare Unruhe. Viele fürchten um ihre Existenz. Anderen fällt in (un)freiwilliger Isolation nach einigen Tagen bereits die Decke auf den Kopf. Kaum sind die Ausgangsbeschränkungen verhängt, werden Rufe aus Wirtschafts- und Finanzkreisen nach einer „Ausstiegsstrategie“ laut. Bei der schrittweisen bzw. möglichst schnellen Wiederbelebung des Wirtschaftskreislaufs soll moderne Überwachungstechnik helfen.

Deutschland…

Parallel zur Forderung nach einer “Ausstiegsstrategie” wird vor einem “Kollaps” (hierzu die aktuellen Prognosen der Wirtschaftsweisen), einer „Gesundheitsdikatur“ oder einem Überwachungsstaat gewarnt. Wieder andere rufen das Ende der Globalisierung oder des Neoliberalismus aus. Und Zukunftsforscher entwerfen (oftmals düstere) Szenarien einer Welt nach Corona, „in der nichts mehr so sein wird wie zuvor“.

So warnt Yuval Noah Harari im Handelsblatt davor “dass das, was jetzt als Notmaßnahme beschlossen wird, auch nach der Krise praktiziert wird.” Hier müsse man auf der Hut sein, damit die Krise nicht zu einer “wichtigen Wende in der Geschichte der Überwachung” werde.

Der Feind ist wieder da“, schreibt der Philosoph Byung-Chul Han in der Welt . “Die maßlose Panik angesichts des Virus ist eine gesellschaftliche, ja globale Immunreaktion”. Diese sei deshalb so heftig, “weil wir sehr lange in einer Gesellschaft ohne Feind, in einer Gesellschaft der Positivität” gelebt hätten. Das Virus werde nun als “permanenter Terror” empfunden. Byung appeliert an die Vernunft der Menschen: “um uns, das Klima und unseren schönen Planeten zu retten“, müssen wir den “zerstörerischen Kapitalismus und auch unsere grenzenlose, destruktive Mobilität überdenken und radikal einschränken“.

…deine Coronavirus-Narrative

Der Soziologe El-Mafaalani findet, “es geht sehr viel” und sieht ein großes Lernpotenzial und die Möglichkeit zu grundlegenden Änderungen als Konsequenzen der Corona-Krise. “Vielleicht sind es winzig kleine Viren, die uns zeigen, dass wir alle im selben Boot sitzen und von systematischer Kooperation abhängig sind.”

Dann gibt es Stimmen der Selbstkritik ob der “kulturell begründeten Illusion, von den Schutzbedürfnissen und Erfahrungen der übrigen Welt ausgenommen zu sein“. Das “demonstrative Fehlen von Atemschutzmasken im hiesigen Strassenbild” sei sinnbildlich dafür, so Mark Siemons in der FAZ und sieht in der Coronavirus-Krise eine “zivilisatorische Kränkung” des Westens.

Nicht zu unterschätzen ist die Attraktivität des Autoritarismus hierzulande, beobachtet der Soziologe Heinz Bude seit längerem in den Führungsetagen der deutschen Gesellschaft. Er treffe auf “erschreckend viele Leute, die eigentlich das chinesische Modell befürworten”. “[…] Vor allem die Wirtschaftsverbände, ich meine Vorstandsvorsitzende, ich meine auch Leute, die als Experten in relativ unbekannten Thinktanks tätig sind. Also das, was man als deep state bezeichnen würde“, so Bude in der Zeit.

Die Krönung der deutschen Coronanarrative liefert die BILD. In einem 10-Punkte Plan mit „SOFORT-Maßnahmen die jetzt kommen müssen” findet sich unter Punkt 8 die Forderung: „Die Nation vor Ausverkauf schützen”.

„Das Regime in Peking, das die Welt über das Virus zunächst belog, will Europa zum Schnäppchenpreis kaufen.“

„Deutscher Erfindergeist darf nicht in die Hände der China-Führung fallen – der Ausverkauf von Wirtschaft und Infrastruktur muss verhindert werden!“

Big Data; KI & Social Tracking

Unabhängig davon, wie rasant oder gebremst sich das Virus weiter ausbreiten wird ist schon jetzt sicher, dass die Coronavirus-Krise ein weiterer Beschleuniger für die Digitalisierung ist. Die digitale Welt hält mit Applikationen weiter Einzug in den analogen Alltag der Bürgerinnen und Bürger.

Der flächendeckende Einsatz von Künstlicher Intelligenz, Big Data und Überwachungstechnologien zur erfolgreichen Eindämmung des Virus ist nicht nur in China effektiv, sondern auch in Hongkong, Taiwan, Singapur, oder Südkorea. Darüber hinaus haben die Regierungen dort aus den Erfahrungen vergangener Epidemien (SARS/MERS) gelernt, von denen sie direkt betroffen waren.

Im Gegensatz zu den fernen Nachbarn in Ostasien ist eine Epidemie wie das Coronavirus für Deutschland Neuland. Jetzt sollen die neuen Technologien auch hier im großen Stil zur Eindämmung des Virus genutzt werden, erste Modellversuche laufen. Die Telekom hat bereits anonymisierte Mobilfunkdaten ihrer Kunden an das RKI weitergegeben. Ein entsprechender Entwurf des Gesundheitsministeriums ist nach heftiger Kritik wurde vorerst auf Eis gelegt.

Die Frage ist wohl kaum, ob solche Maßnahmen kommen werden. Sondern eher, wie diese dann auf „europäische Art“ genutzt werden können.

Social Tracking per Corona-App

Für Frau Leutheuser-Schnarrenberger, Bundesjustizminsterin a.D., zeigt die aktuelle Diskussion über den Einsatz von Mobilfunkdaten, wie schnell wir bereit sind „unsere Freiheit auf dem Altar der Sicherheit zu opfern“. Auch in Krisensituationen gelte die Leitlinie des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, Eingriffe in die individuelle Freiheit der Bürger müssen „eine Ausnahme bleiben“, schreibt die FDP-Politikerin in Welt.

Auch Anke Domscheit-Berg, parteilose Obfrau der Linken im Digitalausschuss des Bundestages, hat Datenschutz-Bedenken und zweifelt die Effizienz von Bewegungsprofilen an. Man könne direkte Kontakte mit Funkzellendaten „überhaupt nicht sinnvoll identifizieren“. Als Alternative zum „social tracing“ wie in Südkorea plädiert die Netzpolitikerin für ein „datenschutzrechtlich unbedenkliches und nicht leicht trollbares Warnsystem“ auf Open Source-Basis, in Kombination mit mehr Tests und Mitarbeitern für die Gesundheitsämter, so Domscheit-Berg im SPON-Interview.

Morgen schon soll die neue Corona-App vorgestellt werden.

Kommentar

Die Coronavirus-Epidemie ist eine Zäsur in vielerlei Hinsicht und mit noch nicht absehbarem Ende. Unsicherheiten und vor allem viele offene Fragen begleiten unseren Alltag. Wie wird es weitergehen? Diese Frage stellen wir uns wohl alle.

Die Diskussionen und der Meinungsaustausch über Strategien und Wege für den Umgang mit der Epidemie werden hierzulande ausgiebig geführt. Sie sind Beleg dafür, dass die Demokratie lebendig ist. Andererseits hat auch dieser Diskurs seine Tücken, was vor allem an Sprache und Wortwahl deutlich wird (Narrative und Feindbilder, “Krieg”, “Kampf”, “Schock”, usw.).

Nach der Krise ist vor der Krise

Das Märchen, dass die Austeritätsmaßnahmen der EU zur Bewältigung der Finanzkrise 2008 “alternativlos” waren, wurde vehement und kompromisslos verbreitet. Der Diskurs fand weitesgehend einseitig statt, das Narrativ der Alternativlosigkeit setzte sich durch. Bis zur nächsten Krise.

Dabei ist unverkennbar, dass viele der heutigen Missstände – vom Gesundheitssystem bis zum Populismus (um nur zwei zu nennen) – direkte Auswirkungen einer einseitigen Sparpolitik und Wirtschaftsweise sind, die den Profit über das Wohl der Menschen stellt. Für viele Menschen kommen die dadurch geschaffenen prekären Verhältnisse in der jetzigen Krise einem Todesurteil gleich.

Es mag sich pathetisch lesen – diese erzwungene Auszeit biete die Gelegenheit, über die soziale Marktwirtschaft und das Verhältnis zwischen Mensch, Markt und Staat nachzudenken.

Und neben aller Systemkritik, noch leben wir nicht in einem Orwellschen Alptraum. Weder ist der Weg Europas starr vorgezeichnet. Welche Überwachungs-, Kontroll- und Unterdrückungsmaßnahmen durch neue Technologien aber bereits im Alltag möglich sind, zeigt der Blick nach China (siehe auch #36 und #21).

“Dieses neue China soll […] eine von außen bunt anzusehende Mischung aus George Orwells 1984 und Aldous Huxleys Schöne neue Welt [sein], wo sich der Mensch dem Kommerz und Vergnügen verschreibt und so ganz von allein der Überwachung ergibt.”

(Kai Strittmatter, Die Neuerfindung der Diktatur, S.11)

Diese Diktatur 2.0. findet natürlich nicht nur in China statt. Programme wie “Clearview” oder “Palantir” kommen auch in Demokratien zum Einsatz. Gleichzeitig vermarktet die KP Chinas ihr Modell weltweit, die Nachfrage ist riesig.

Demokratische Gesellschaften sind deshalb gut beraten, sich intensiv mit diesen Themen auseinanderzusetzen und europäische Antworten zu entwicklen. Auch auf der individuellen Ebene. Aktuell ist die Corona-App einer von vielen Bausteinen.

#21 Im Sinoskop: Schöne Neue Welt – Digitale Revolution in China

 

Mit humanistischen Grüßen gegen die Dystopie…


Beitragsbild SARS-CoV-2 von Felipeesquivel20/ CC BY-SA 4.0

Sinoskop abonnieren, keinen neuen Beitrag verpassen & exklusiv „Die Woche im Sinoskop“ erhalten!
Du erhältst etwa 1-2 Emails pro Woche. Die Abmeldung ist jederzeit möglich.
Die gespeicherte E-Mail-Adresse wird nicht an Dritte weitergereicht, es werden keine weiteren Daten erhoben oder gespeichert. Weitere Informationen zum Datenschutz findest Du in der Datenschutzerklärung.

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*