Ob Strukturwandel, Digitale Revolution, oder der Systemwettbewerb mit China. Die Folgen dieser Umwälzungen sind gewaltig und machen sich für viele Menschen längst bemerkbar. Im guten wie im schlechten. Die Auswirkungen dieser Schlagwörter auf den Alltag sind aber oft abstrakt. Eine neue Dokumentation macht diese Zusammenhänge anhand eines konkreten Beispiels und auf der individuellen Ebene deutlich.
China-Doku „American factory“ – wenn chinesische Firmen auf Einkaufstour gehen
Seit Jahren gehen chinesische Investoren weltweit auf Einkaufstour. Die neuen Eigner aus Fernost werden dabei mal als Retter, mal als Bedrohung wahrgenommen. Am Beispiel eines stillgelegten Werks von General Motors (GM) zeigen die amerikanischen Filmemacher Reichner und Bogner den industriellen Niedergang der USA und den Aufstieg Chinas.
Von 2016 bis 2018 begleitete das Regisseurpaar die mit Chancen und Herausforderungen verbundene chinesische Übernahme in deren Heimat im Bundesstaat Ohio. Dabei nehmen sie die Rolle neutraler Beobachter ein, verzichten größtenteils auf ein Narrativ und lassen die Menschen vor Ort zu Wort kommen.
Die Protagonisten des Films sind Menschen der amerikanischen Arbeiterklasse, die zu den Leidtragenden des tiefgreifenden Strukturwandels gehören. Gleichzeitig gewährt die Kamera Einblicke in die Lebensrealität chinesischer Arbeiter und die Sorgen eines chinesischen Milliardärs.
„American Factory“ ist eine Geschichte vom Ende des amerikanischen Traums und vom Beginn des China-Traums im 21. Jahrhundert.
“美国工厂“ – China-Doku American Factory
Mit der Schließung des GM-Werks 2008 verliert die Belegschaft auch ihren Arbeitsplatz. 2014 erscheint dann die Rettung in Form eines chinesischen Investors. Der Milliardär Cao Dewang kauft das stillgelegte Werk, investiert Millionen und wandelt es in eine Fabrik zur Herstellung von Glasscheiben für die Automobilindustrie um. Im Oktober 2016 findet schließlich die feierliche Eröffnung von Fuyao Glass America (FGA) statt.
Viele der etwa 2200 Arbeitsplätze bei FGA werden mit ehemaligen GM-Werksarbeitern besetzt. Angelernt werden sie von chinesischen Facharbeitern, die hierfür nach Amerika versetzt wurden. Man erfährt, dass diese Facharbeiter ganz selbstverständlich zwei Jahre lang von ihren Familien getrennt in der Ferne leben, ohne Zulagen dafür zu erhalten.
Anfangs ist der Optimismus auf beiden Seiten groß. Von Sprachbarrieren läßt man sich erstmal nicht abschrecken, die amerikanischen Arbeiter sind hoffnungsvoll und freuen sich, wieder in Lohn und Brot zu stehen.
Nach kurzer Zeit weicht diese Zuversicht aber zunehmend der Ernüchterung. Zu den Sprachbarrieren gesellen sich kulturelle Unterschiede. Vor allem bergen die grundverschiedenen Arten der Unternehmensführung ein großes Konfliktpotential. Als dann auch noch der erwartete Gewinn ausbleibt und FGA stattdessen Verluste schreibt, wird das Klima zunehmend rauer und die Anforderungen an die Belegschaft steigen.
Streit um Arbeitnehmerrechte
Unruhige und unzufriedene Chinesen beschweren sich über die „langsame“ amerikanische Belegschaft mit den „fetten Fingern“. Die US-Arbeiter beklagen ihrerseits mangelnde Arbeits-, Umwelt- und Sicherheitsstandards in der Fabrik und beginnen, sich zu organisieren. Das Ziel ist die Gründung einer Gewerkschaft. Die chinesische Unternhemensführung lehnt dies aber ab, und auch das Verständnis der Arbeiter aus China hält sich in Grenzen. Die Stimmung in der Fabrik sinkt.
„Mit einer Gewerkschaft schließe ich die Firma. Sie ist jetzt schon ineffizient und macht Verluste“, schimpft Milliardär Cao bei einem seiner zahlreichen Besuche in Dayton. Der chinesischen Seite ist dieser Aktivismus ein Dorn im Auge und das Management ergreift Maßnahmen. Mit Zuckerbrot und Peitsche soll die Gewerkschaftsbildung verhindern werden.
In einer seiner Reden vor den der chinesischen Arbeitern beschwört Cao deren Nationalstolz. Die Kritik der Chinesen an den amerikanischen Arbeitern hält weiter an. Demnach sind sie „ineffizient“, „arbeiten nicht hart genug“ und sollten „ihres Gehalts würdig“ sein.
Fuyao-Hymne: „Alles für Transparenz“
Den „Fuyao-Spirit“ darf eine Handvoll der US-Belegschaft dann selbst hautnah in China erleben. Bei ihrem Besuch nehmen die Gäste aus den USA an einem riesigen Firmenfest teil. Auf einer Bühne tanzen verkleidete Mitarbeiter und Kinder einstudierte Choreographien und singen Firmenhymnen. Eine handvoll Brautpaare betritt die Bühne, sie schließen am Arbeitsplatz den Bund der Ehe. Alle sind Teil der großen Fuyao-Familie unter Chairman Cao. Es werden einige Register der Propaganda und der Inszenierung gezogen. Die amerikanischen Gäste dürfen auch noch kurz ins Rampenlicht und geben eine Darbietung des Schlagers YMCA zum besten. Die Szene hat etwas tragisch-komisches.
„To stand still is to move back“
Zurück in Dayton ziehen die neuen Herren die Zügel weiter an. Das Management verordnet den Landsleuten, die „Esel“ zu „führen“ und ihnen zu „helfen“, sie für Fuyao „arbeiten zu lassen“. Die Amerikaner seien einfach auf diese Hilfe angewiesen, da verweichlicht.
2018 machte FYA dann auch Gewinne. Wie der Kampf der Arbeiter für bessere Arbeits- Umwelt- und Sicherheitsstandards ausgeht, wird an dieser Stelle nicht verraten.
China-Doku American Factory -Fazit
Verkehrte Welt – wenn die Arbeiterklasse im kapitalistischen Amerika gegen ein Unternehmen aus der sozialistischen VR China um Arbeitnehmerrechte kämpft. Die China-Doku „American Factory“ erzählt auf unaufgeregte und nüchterne Art und Weise von diesem Konflikt. Ein Beispiel aus einer Welt, in der sich die Spielregeln ändern.
Ein sehenswerter Film, der aktuelle und zukünftige Chancen wie Herausforderungen durch den Aufstieg Chinas zeigt. Die von Michelle und Barack Obama produzierte Dokumentation ist bei Netflix zu sehen.
Der offizielle Trailer:
Auch sehenswert ist dieses Vice-Interview mit Chairman Cao:
Mehr dazu:
Beiträge zu Filmen aus China, siehe auch #10
BLOOMBERG: Chinesische Reaktionen auf die Dokumentation
Antworten