Das Hauptproblem der Kritiker der Industriepolitik besteht jedoch darin, dass sie etwas kritisieren, das es noch gar nicht gibt. Es fehlt bisher an einer deutschen oder besser noch europäischen Strategie.
Peter Bofinger in der Zeit (April 2019)
Nationale Industriestrategie 2030
Im Februar 2019 präsentierte Bundeswirtschaftsminister Altmaier die „Nationale Industriestrategie 2030“ sowie ein „Deutsch-Französisches Manifest für eine europäische Industriepolitik“. Im Kern will die Strategie die deutsche Wirtschaft zukunftsfähig und weiterhin wettbewerbsfähig machen. Dafür sollen auch Unternehmensfusionen in Schlüsselbereichen erleichtert werden. Diese nationalen bzw. europäischen Champions sollen sich gegenüber der internationalen Konkurrenz aus den USA oder Fernost behaupten können, sowohl innerhalb Europas als auch bei der Vergabe von bestimmten internationalen Aufträgen. Zum Schutz der heimischen Industrie soll ein staatlicher Beteiligungsfonds unliebsame Übernahmen aus Nicht-EU-Ländern verhindern helfen.
Der bisherige Entwurf der „strategischen Leitlinien für eine deutsche und europäische Industriepolitik“ hier in voller Länge.
Nationale Industriestrategie: Droht das Ende der sozialen Marktwirtschaft?
Man habe eine Debatte anstoßen wollen, heißt es aus dem Wirtschaftsministerium. Dies ist gelungen, denn prompt hagelt es Kritik. Vor allem Vertreter des Mittelstandes und der Familienunternehmer fühlten sich benachteiligt und im Papier nicht ausreichend repräsentiert.
Die Gegner einer staatlichen Industriepolitik fordern, dass der Staat sich weitestgehend zurückhält und allein auf die Schaffung von wirtschaftsfreundlichen Rahmenbedingungen konzentriert:
- Eine Reform der Unternehmenssteuer
- Weniger Bürokratie
- Bessere Infrastruktur
- Ausbau des Breitbandnetzes
- Senkung der Strompreise
- Auch eine Verdoppelung der EU-Forschungsausgaben, eine europäische Investitionsbank, steuerliche Forschungsförderung und Schutzinstrumente gehören zum Forderungskatalog
Kritik an Altmaiers Industriestrategie kommt auch von Deutschlands Exporteuren. Sie sehen Deutschland nicht als Opfer, sondern als Profiteur von Chinas Aufstieg. Der Präsident des Branchenverbands BGA, Bingmann, sieht die momentane „China-Phobie“ gar als grundlos an. Statt nationaler oder europäischer Abschottung fordert er stärkere Investitionen in die digitale Infrastruktur oder die Grundlagenforschung, um die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Das stärkste Argument der Exporteure: Wie im Vorjahr sollen die deutschen Exporte auch 2019 um 3% wachsen, was einem möglichen neuen Rekordwert von 1,4 Billionen Euro entspräche, berichtete die FAZ.
Zahlreiche Vertreter von Parteien, der Industrie und von Wirtschaftsverbänden lehnen das Industrie-freundliche Strategiepapier ab und warnen vor einer staatlichen Industriepolitik im Allgemeinen. In den Augen mancher Verfechter des Neoliberalismus wird der freie Markt es richten. Eine Industriepolitik erscheint somit nahezu überflüssig.
Bitte nur auf Abruf: Die unsichtbare Hand des Staates
Fraunhofer-Präsident Neugebauer sieht „jedenfalls überhaupt keinen Anlass zur Sorge, dass wir von heute auf morgen ins Hintertreffen geraten“. Im Gespräch mit dem Handelsblatt fordert er, dass Politik sich allein auf die Schaffung von Rahmenbedingungen konzentrieren solle, die Innovation und Wertschöpfung ermöglichen. Und: „Sie muss Nachteile, die wir gegenüber anderen Regionen haben, ausgleichen“. Bei der Wettbewerbsfähigkeit „sollte der Staat nicht eingreifen“. Dafür seien die Unternehmen selbst zuständig, durch „Originalität und Kreativität“.
Auch der Präsident des Ifo-Instituts, Fuest, äußert sich im Handelsblatt zum Thema: „Die Bundesregierung muss sich die Frage stellen, was sie für den Industriestandort getan hat.“ Er kritisiert, dass öffentliche und private Investitionen vernachlässigt worden seien und fordert „eine entschlossenere Förderung von Forschung und Entwicklung. Und wir brauchen dringend eine Steuerreform.“ Eine gute Industriepolitik sollte laut Fuest dort eingreifen „wo Marktversagen herrscht und staatliche Eingriffe Verbesserung bringen. Eine durchdachte Industriepolitik könne dann auch Wohlstandsvorteile erbringen.“
EU-Wettbewerbskommissarin Vestager ist ebenso keine Freundin von europäischen Champions, berichtet das Handelsblatt. Vielfalt sei es, was Europa für sie ausmache, und wie in der Natur mache Diversität ein System überlebensfähiger. Sie möchte einen fairen Wettbewerb zwischen Unternehmen in Europa gewährleisten und diese gleichzeitig vor unfairem internationalen Wettbewerb schützen. Dies sei auch im Sinne der Verbraucher, die durch Monopole oder Duopole nicht benachteiligt werden dürften, z.B. durch höhere Preise.
Keine starke Wirtschaft ohne Staat
„Wie können eigentlich Unternehmen, die aus der Marktwirtschaft kommen, bestehen gegenüber Unternehmen, die aus einer Staatswirtschaft kommen?“ fragt Bundeskartellamtspräsident Mundt im Handelsblatt und nennt die Internetgiganten Chinas (BAT = Baidu, Alibaba, Tencent) als Beispiele. Siehe auch #21:
#21 Im Sinoskop: Schöne Neue Welt – Digitale Revolution in China
Der Aufstieg von BAT an die Weltspitze sei möglich geworden „weil sie sich in einem abgeschlossenen Marktraum entwickeln konnten und ihnen die Konkurrenz vom Leib gehalten wurde.“
„Jede Politik, die versucht, gewisse Branchen zu schützen oder zu fördern, ist Industriepolitik“ sagt SPD-Urgestein Von Dohnanyi im Handelsblatt und spricht sich für eine aktive Industriepolitik aus. Denn „wenn ein Land wie China mit großem Aufwand neue Industrien aufbaut, entsteht auch für Deutschland eine neue Lage. Damit muss man sich auseinandersetzen.“ Das Thema Industriepolitik nur einseitig als entweder/oder zu betrachten findet Von Dohnanyi „falsch“ und „eine typisch deutsche Debatte!“
Unterstützung erhält Altmaier auch aus Österreich. „Europa kann ohne eine solide und moderne industrielle Basis nicht bestehen“, sagte Wirtschaftsministerin Schramböck der FAZ. Das Nachbarland bereitet eine ähnliche Industriestrategie und ein Außenwirtschaftsgesetz vor und setzt sich für eine Reform des Wettbewerbsrechts aus den 1950er Jahren ein.
Der ehemalige Wirtschaftsweise Bofinger sieht das Altmaier-Papier in der Zeit als Weckruf und fordert eine Diagnose, die sich an „Made in China 2025“ (siehe #28 Made in China 2025) orientiert. So könne man erkennen, was sich daraus für deutsche Wettbewerber ergibt. „Es muss zudem gelingen, frühzeitig technologische Zukunftsfelder zu identifizieren“.
Nationale Industriestrategie: Herausforderungen unserer Zeit (nicht) im Blick?
Kommentar: Die Diskussion wird weiter gehen und im Herbst soll ein überarbeitetes Papier veröffentlicht werden. Auch die Grünen arbeiten derzeit an einer eigenen „Grünen Industriepolitik“. Das die Themen Umwelt, Klimawandel, Energiewende wenn überhaupt nur negativ erwähnt werden, ist eine große Schwäche des Altmaier-Papiers.
Es geht um den langfristigen Erfolg und das Überleben von Unternehmen hierzulande und in Europa. Warum finden (EU-)Ziele wie CO²-neutrales Wirtschaften – oder Marktführer in Sachen Umwelttechnologien werden zu wollen – keine Erwähnung?
Chinas nationale Industriestrategie „Made in China 2025“ ist zwar vom deutschen Konzept „Industrie 4.0“ inspiriert, zeigt aber auch konkreter als dieses, wie Umwelttechnik und -schutz keine Widersprüche sondern Teil einer Industriestrategie sein können – und es im 21. Jahrhundert auch sein müssen.
Einigkeit herrscht zumindest weitestgehend bei der Tatsache, dass kein erfolgreiches Land nur auf den Markt allein setzen kann. Doch die einzelnen Interessenvertreter zeigen bisher wenig Kompromissbereitschaft. Sich auf der Stärke vergangener Tage auszuruhen, z.B. als Exportweltmeister von Gütern, die China bald selbst herstellt oder nicht mehr brauchen wird, kann kein tragfähiges Zukunftsmodell sein.
Die Erde ist größer als Europa oder „der Westen“ und eine eurozentristische oder nationalistische Sicht allzu kurzsichtig. Denn sie verkennt globale Realitäten und wirkt rückwärtsgewandt in einer zunehmend vernetzten und kleiner werdenden Welt.
Oder um es mit den Worten des IfW-Chefs, Felbermayr, zur Zukunft Europas zu sagen:
„Wir müssen uns […] darauf einstellen, dass der Konflikt der Weltmächte USA und China der beherrschende Konflikt des nächsten Jahrzehnts sein wird, und zwar auf allen Ebenen […]. Es geht um die Weltherrschaft.“ (Handelsblatt)
Mehr dazu:
#61 China-Debatte im Bundestag und den Parteien
LESENWERT:
DW: Schlagabtausch über die Industriepolitik
WELT: Wirtschaftsweise zur Strategie
ZEIT: Gastbeitrag zur Industriepolitik
HÖRENSWERT:
BR: Interview zu Industriepolitik in China & Europa
DRADIO: Interview mit DIW-Präsident
DW: Deutschlands mächtiger Mittelstand
SEHENSWERT:
ARD: China auf der Überholspur
ARTE: E-Autos werden Normalität
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