#105 Beziehungen China und Türkei

Beziehungen China und Türkei, Xi Erdogan
Flaggen von China und der Türkei am Tiananmen in Peking 2019

Ich denke, der Westen entfremdet sich gerade vom Rest der Welt, er verliert die Kontrolle. In vielen Fragen.

Erdoğans außenpolitischer Berater, Ibrahim Kalın, ZEIT, Mai 2023

(aktualisiert am 29.05.2023)

Im Sinoskop: Die Beziehungen zwischen der Türkei und China

Die Reise aus der Mongolei zurück nach Europa führt entweder nach Frankfurt am Main oder über Istanbul. Der Autor entschied sich für letzteres und verbrachte ein paar Tage in der Millionenstadt am Bosporus, wo sich Europa und Asien treffen. In der Türkei mit ihren rund 85 Millionen Einwohnern entscheidet sich dieser Tage der zukünftige Kurs des Landes. Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan ist seit 20 Jahren an der Macht und will es auch weiterhin bleiben. Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu will diesen nach der Stichwahl am 28. Mai ablösen.

China und die Türkei – Eindrücke aus Istanbul

In den alten Stadtteilen Beyoğlu und Galata, rund um den Taksim-Platz und entlang der Einkaufsmeile İstiklal Caddesi tummeln sich in diesem Frühling wieder Touristen aus aller Welt. Neben Arabisch hört man vor allem sehr viel Russisch und auch immer wieder Chinesisch. Die begehrten Touristen aus China sind nach gut drei Jahren Zwangspause wieder unterwegs und Istanbul ein beliebtes Reiseziel. Rund eine halbe Million Besucher aus der Volksrepublik machten 2019 laut des Ministeriums für Kultur und Tourismus Urlaub in der Türkei.[1]

Keine China-Town in Turkyie

Apropos Corona. Das ärmliche Viertel Dolapdere unweit des Taksim-Platzes wurde vor einigen Jahren als mögliche zukünftige China-Town Istanbuls gehandelt. Der Ausbruch der Pandemie hatte diese Entwicklung allerdings unterbrochen. Neben dem Tourismus sollen jetzt auch die Immobilienkäufe durch zahlungskräftige Chinesen wieder ansteigen. Bei einem Spaziergang durch die Gegend sieht man ein paar Hotels und Restaurants mit chinesischen Namen. Das „Beijing“ Hotel oder das „Only Sushi Chinese“ Restaurant stehen bereits und erwarten Gäste. Alles kein Vergleich zu den chinesischen Vierteln in anderen Großstädten wie Madrid, Paris oder London, wo sich Migranten aus China bereits vor Jahrzehnten ansiedelten und teilweise ganze Straßenzüge aufkauften und diese seitdem prägen. Auch im Nachbarland Griechenland ist die chinesische Präsenz stärker, was zu einem großen Teil an der Eigentümerschaft von COSCO am Hafen in Piräus bei Athen liegt.

Die Zahl der in der Türkei lebenden Chinesen ist mit rund 19.000 Menschen demnach entsprechend überschaubar und im Vergleich zu den etwa 50.000 Uiguren gering.[2] Mehr zu den Uiguren in der Türkei später.

Rückblick Sommer 2022: Überraschend war der Anblick einer rotfarbigen Straßenbahn, die das 25. Jubiläum der Rückgabe Hongkongs an das Festland feiernd durch die Stadt fuhr und den Slogan „A New Era – Stability. Prosperity. Opportunity“ propagierte. Während diese Art der Parteiwerbung in Brüssel und am Frankfurter Flughafen nach Protesten aus dem Verkehr gezogen wurden, störte man sich in Istanbul weniger daran. [3]

Bilaterale Beziehungen zwischen der Türkei und China

Die Ursprünge der Türken liegen im Gebiet der heutigen Mongolei. Am Fluss Orchon, zwischen Baikalsee und Wüste Gobi herrschten in der vorislamischen Periode (etwa Mitte des 5. Jhdts.) die „Orchon Türken“. Grabdenkmäler in der Form von Steinstelen zählen zu den ältesten erhaltenen Belegen aus dieser Zeit der türkischen Kaganate. Schon zur Tang Dynastie (ca. 600 bis 900) pflegten die alttürkischen Nomadenstämme (und die Uiguren) rege Beziehungen zu den Chinesen. 

Historisch waren die Beziehungen zwischen China und den Turkvölkern dabei selten von Harmonie geprägt. Die Große Mauer trennte, die Seidenstraße verband. In den Augen des kaiserlichen China handelte es sich letztlich um kulturell unterlege „Barbaren“, wodurch sich bis heute vorhandene Vorurteile der Türken gegenüber China teilweise begründen lassen.

Türkei und China – seit 2010 strategische Partner

Zur Zeit des Kalten Krieges (und während des Koreakrieges Anfang der 1950er Jahre) gehörten die beiden Ländern unterschiedlichen ideologischen Lagern an. Die Türkei und die Volksrepublik China nahmen 1971 diplomatische Beziehungen auf. 2010 wurden die bilateralen Beziehungen zu einer Strategischen Partnerschaft aufgewertet.

In der Welt des frühen 21. Jahrhunderts bekommt das Verhältnis zwischen China und der Türkei eine neue Bedeutung und gewinnt an Gewicht. (Geo)politisch und wirtschaftlich ist die Türkei für China von Interesse. Die Türkei wiederum möchte ihren Einfluss als ambitionierte Regionalmacht geltend machen. Seit einigen Jahren ist China bestrebt, den eigenen Einfluss im Land auszuweiten und die Wahrnehmung innerhalb der türkischen Bevölkerung zu verbessern. Dies versucht China laut einer Studie mittels verschiedener Medienstrategien. Die Ausgangslage für chinesische Propaganda in der Türkei ist allerdings nicht die beste: historisch begründete Vorbehalte, wenige pro-chinesische Stimmen in der türkischen Gesellschaft und Politik, eine kleine chinesische Gemeinschaft. Allerdings veröffentlichen (staatsnahe) türkische Medien inzwischen häufiger von Chinas Staatsmedien zur Verfügung gestellte Beiträge und chinesische Diplomaten erhalten die Möglichkeit zu Fernsehauftritten. [4] Ziel: „To tell China’s story well“ – die Errungenschaften der KP zu preisen. Ein weiteres bekanntes und umstrittenes Mittel chinesischer „soft power“ sind die Konfuzius-Institute, von denen es in der Türkei fünf gibt.

Handel ohne Anspruch auf Wandel

Die bilateralen Handelsbeziehungen sind seit Anfang der 2000er Jahre von rund einer Milliarde auf 32 Milliarden US-Dollar angestiegen (2021). China als Einzelstaat ist der größte Handelspartner der Türkei (gefolgt von Russland und Deutschland), wobei der bilaterale Handel von einem großen Ungleichgewicht geprägt ist. Der Wert der chinesischen Importe ist etwa neun Mal höher als jener der türkischen Exporte. [5]

Für die Regierung Erdoğan ist China ein begehrter Kapitalgeber und Investor für Infrastrukturprojekte. Dazu zählt unter anderem das umstrittene Kanalprojekt in Istanbul. Der geschätzt etwa 15 Milliarden US Dollar teure und 45 Kilometer lange Kanal soll Istanbul mit dem Schwarzen Meer verbinden und ist ein Prestigeprojekt des türkischen Präsidenten. Im Rahmen der Belt-and-Road Initiative (BRI) ist die Volksrepublik als Geldgeber im Gespräch.

Weitere chinesische Investitionen am Bosporus im Bereich Infrastruktur: Ein Hafenterminal ist seit 2015 im Besitz eines chinesischen Konsortiums. [6] Laut der Nachrichtenagentur Bloomberg sollen chinesische Investoren auch Interesse an einer Mehrheitsbeteiligung an einer der drei Bosporusbrücken haben.

Die folgende Grafik der China-Denkfabrik Merics zeigt weitere Projekte mit chinesischer Beteiligung in der Türkei:

(Quelle: https://merics.org/en/turkey-china-relations-ankara-must-balance-complications-many-fronts)

Huawei baut das 5G-Netz in der Türkei

Auch im Bereich Telekommunikation sind chinesische Firmen präsent, Huawei baut das 5G-Netz in der Türkei auf. Bereits im Sommer 2022 startete am neuen International Airport in Istanbul das erste 5G-Netz des Landes – und als erster 5G-Flughafen Europas überhaupt.

Anders als in der Bevölkerung hat die türkische Wirtschaft weniger Vorbehalte und begrüßt den Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen, wie diese Gesprächsrunde aus dem Jahr 2019 zeigt.

360 Grad Außenpolitik der Türkei

Die Türkei will sich durch die strategische Lage zwischen West und Ost als Regionalmacht etablieren. Wie in vielen Ländern ist China hier auch in der Türkei ein willkommener Gegenpol zu den USA. Antiamerikanismus spielt in der Türkei und in den türkisch-chinesischen Beziehungen eine Rolle. Seit 2014 war der türkische Präsident fünf Mal zu Besuch in Peking, was die erwünschte Vertiefung der Beziehungen verdeutlicht.

Herr Erdoğans außenpolitischer Berater, Ibrahim Kalın, betont die außenpolitische Unabhängigkeit seines Landes. Aktuell sehe er eine Entfremdung des Westens „vom Rest der Welt“, sowie einen Kontrollverlust in vielen Fragen. Er kritisiert einen „Mangel an strategischem Denken und aggressives Verhalten gegenüber China.“ Wie sich Europa im 21. Jahrhundert als globaler Akteur positionieren wolle, ist für ihn eine offene Frage. [7]

Interessen der Türkei und Chinas reichen vom Balkan bis nach Afghanistan

Politisch, wirtschaftlich, militärisch und kulturell hat die Türkei unter Präsident Erdoğan ein gewißes Sendungsbewusstsein, welches sowohl in den Balkan als auch bis weit nach Zentralasien reicht. Gut ein Jahrhundert nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches sieht sich die Türkei auf dem Balkan weiterhin als Schutzmacht der dort lebenden Muslime. Unter Präsident Erdogan, dem von Kritikern Großmachtsträume von einer Wiederbelebung des Osmanischen Reichs nachgesagt werden, vielleicht mehr als zuvor. Gleichzeitig steigert China den Einfluss in der Balkanregion durch Infrastrukturprojekte. Der geplante Bau der Schnellzugstrecke von Belgrad nach Budapest zählt zu den bekanntesten BRI-Projekten.

Afghanistan ist ein weiteres Beispiel. China und die Türkei sind gleichermaßen sehr interessiert am Kontakt mit den Taliban und bemühen sich intensiv um gute Beziehungen. Bis Mitte des Jahres 2022 gab es 71 bekannte Treffen chinesischer Vertreter mit den Taliban seit deren Machtübernahme im Sommer 2021. Seitens der Türkei sollen es über 50 Treffen gewesen sein. [8]

In den Staaten des Balkans wie in Afghanistan überschneiden bzw. überkreuzen sich chinesisch-türkische Interessen. Die Teilnahme des NATO-Mitglieds Türkei an den Treffen der Shanghai Corporation Organisation (SCO), zuletzt 2022 in Samarkand, Usbekistan, ist weiterer Ausdruck der neuen Bedeutung des Landes bei der geopolitischen Neuausrichtung im 21. Jahrhundert.

Dann gibt es noch den „Mittleren Korridor“, eine Transportroute von Ost nach West, die sich teilweise mit Chinas „Neuer Seidenstraße“ trifft. Der Warentransport entlang des mittleren Korridors hat als Alternativroute zu den Verbindungen durch Russland seit der russischen Invasion der Ukraine zugenommen. Die türkische Staatsbahn hat 2022 in Erzurum ganz im Osten des Landes ein neues Containerterminal eröffnet und hofft langfristig auf mehr Güterverkehr. Allerdings bleiben zahlreiche Probleme bestehen, von höheren Kosten über unterschiedliche Spurbreiten hin zu Korruption. [9] Hinzuzufügen sei an dieser Stelle noch die geplante Transadriatische Gaspipeline von Aserbaidschan über die Türkei in die Balkanregion. Ein weiteres Großprojekt, an dem die Türkei beteiligt ist.

China und die Uiguren in der Türkei

2009 bezeichnete Herr Erdoğan den Umgang der chinesischen Regierung mit dem Turkvolk in Xinjiang „fast als Genozid“ und löste ein diplomatische Krise zwischen Ankara und Peking aus.

Während des kurzen Aufenthalts in Istanbul fuhr der Autor mit der Straßenbahn in eines der Stadtviertel mit uigurischer Bevölkerung. Vor Ort ein Lebensmittelgeschäft mit dem Namen „Uigur Market“ und einige Restaurants. Leider war es nicht die beste Zeit für einen Besuch, denn während des Ramadan war es tagsüber ruhig und die Restaurants öffneten erst zum Sonnenuntergang.

Sucht man auf Google Maps nach dem chinesischen Konsulat in Istanbul, bekommt man Bilder von Uiguren zu sehen, die vor dem Gebäude am Stadtrand protestieren.

Die Kritik des türkischen Staatsoberhaupts an der Uiguren-Politik Chinas verstummte seit dem gescheiterten Putschversuch 2016 in der Türkei nahezu völlig. Seither näherte sich die türkische Regierung in dessen Folge politisch und wirtschaftlich den autoritären Staaten Russland und China an.

Während der Coronavirus-Pandemie war die Türkei eines der Länder, welches Ende 2020 millionenfach den chinesischen Impfstoff Sinovac kaufte. Zwei Tage nach dem 50-Millionen Impfdosen-Handel verkündete Peking die Ratifikation eines 2017 beschlossenen Auslieferungsvertrags mit der Türkei. Damit stieg die Furcht der in der Türkei lebenden Uiguren. [10]

Im türkischen Staatssender TRTWorld berichtet der im Londoner Exil lebende Arzt Enver Tohti von seinen persönlichen Erfahrungen in Xinijang:

Die Türkei und China – Ausblick

Die türkisch Republik steht 100 Jahre nach ihrer Gründung vor einer Entscheidungswahl. Wird der jetzige Präsident für eine weitere Amtszeit wiedergewählt werden, dann sind die Befürchtungen groß, dass das Land sich noch weiter weg von einem demokratisch-parlamentarischen System hin zu einem zunehmend nationalistisch-autoritären Staat entwickeln wird. Das könnte auch eine weitere Entfremdung zu den westlichen Staaten und vor allem zur EU bedeuten, dem größten Handelspartner des Landes, sowie eine größere Annäherung an Russland und China.

Die Opposition verspricht nach einem Wahlsieg eine Rückkehr zur Demokratie und eine Verbesserung der Beziehungen zur EU. An guten wirtschaftlichen Beziehungen – sowohl nach West wie Ost – dürfte jeder Regierung in Ankara gelegen sein. Das Land steckt seit Jahren in einer Wirtschaftskrise.

Sicher ist: Die Türkei wird auch zukünftig ein begehrter Partner bleiben – politisch, wirtschaftlich und militärisch.

Nachtrag: Die Türkei nach der Wahl

Noch waren am Wahlabend nicht alle Stimmen ausgezählt, schon kamen die ersten Glückwünsche zum Wahlsieg Erdoğans. Der Ministerpräsident Ungarns, der Emir von Katar und die afghanischen Taliban gehörten zu den ersten Gratulanten, berichtet Spiegel Online. Dem vorläufigen Endergebnis zufolge bekam der alte und neue Präsident eine Mehrheit der Stimmen von 52,1%. Erdoğan und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) wird das Land weitere fünf Jahre regieren.

 

#51 Xi, Xiplomatie, Xinjiang und die China Cables

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Quellen:

[1] https://www.hurriyetdailynews.com/turkiye-seeks-to-lure-chinese-tourists-homebuyers-180087.

[2] Turkstat, https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=37210&dil=2.

[3] https://www.fr.de/frankfurt/aerger-propaganda-vorwuerfe-flughafen-frankfurt-stoppt-hongkong-werbekampagne-china-fraport-91710758.html.

[4] https://carnegieendowment.org/2022/11/09/china-is-playing-by-turkey-s-media-rules-pub-88368.

[5] https://merics.org/en/turkey-china-relations-ankara-must-balance-complications-many-fronts.

[6] https://asia.nikkei.com/Politics/International-relations/Eyeing-Chinese-investment-Turkey-kicks-off-Canal-Istanbul-project.

[7] https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-05/recep-tayyip-erdogan-berater-tuerkei-ibrahim-kalin.

[8] https://www.welt.de/politik/ausland/plus240591315/Machtvakuum-Wie-China-in-Afghanistan-seine-Macht-ausbauen-will.html.

[9] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wie-die-tuerkei-im-china-europa-handel-als-neue-drehscheibe-punkten-will-18497165.html.

[10] https://www.nzz.ch/international/corona-in-der-tuerkei-was-ist-der-preis-fuer-chinas-impfstoff-ld.1596616.

Beitragsbild:

維基小霸王, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Turkey_-_China_flags_in_front_of_Tian%27anmen.jpg

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