#111 China und 75 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

China Straße der Menschenrechte Nürnberg
Straße der Menschenrechte, Nürnberg, eigene Aufnahme

Artikel 22 der universellen Menschenrechtserklärung:

Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch auf die für die Würde und freie Entfaltung der Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte.

China und 75 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

Sind Menschenrechte egalitär und universell gültig? Oder ist ihre Auslegung Ansichtssache und eine Frage der Definition?

Sicher ist, für einen Großteil der aktuell rund acht Milliarden Menschen sind auch 75 Jahre nach ihrer Schaffung die wenigsten der in den 30 Artikeln formulierten allgemeinen Menschenrechte Bestandteil der Lebensrealität.

Zusätzlich wird die Universalität der Menschenrechte von verschiedenen Seiten in Frage gestellt, nicht anerkannt, oder es werden Versuche unternommen, diese neu auszulegen.

Die Kommunistische Partei der Volksrepublik China ist eine der mächtigsten und einflussreichsten Kräfte, die seit langem aktiv und intensiv an einer Neudefinition der Menschenrechte und deren Anerkennung arbeitet.

Ein kurzer Überblick anlässlich des Tags der Menschenrechte und des 75. Jahrestags der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

Internationales Symposium zur Erinnerung an den 75. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in Peking

Am 5. Dezember fand in Peking ein internationales Symposium zur Erinnerung an den 75. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte statt. Veranstaltet wurde dieses von der „China Foundation for Human Rights Development“.

Der Pressesprecher des chinesischen Außenministeriums berichtete Tags darauf über die diesjährige Veranstaltung:

An dem Symposium nahmen hochrangige Beamte aus asiatischen, afrikanischen, lateinamerikanischen und europäischen Ländern und dem Amt des Hochkommissars für Menschenrechte sowie Diplomaten in China, Experten und Wissenschaftler und Vertreter von Organisationen der Zivilgesellschaft teil. Wang Yi, Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees der KPCh und Außenminister, nahm an der Eröffnungszeremonie teil und hielt eine Grundsatzrede, in der er die wichtigen Ansichten von Präsident Xi Jinping zu den Menschenrechten, Chinas Entwicklungsweg im Bereich der Menschenrechte und Chinas Position und Vorschläge zur globalen Menschenrechtspolitik erläuterte. Die beteiligten Parteien führten auf dem Symposium ausführliche Diskussionen über die Förderung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte, den Entwicklungspfad der Menschenrechte und die globale Menschenrechtspolitik und tauschten sich darüber aus, wie die globale Menschenrechtspolitik in der neuen Situation reformiert und verbessert werden kann. Die Erklärung von Peking, die auf dem Symposium abgegeben wurde, spiegelt den internationalen Konsens wider und liefert nützliche Ideen für die Förderung der weltweiten Menschenrechtsarbeit.

China ist bereit, dieses Symposium als Gelegenheit zu nutzen, mit allen Parteien zusammenzuarbeiten, um die gemeinsamen Werte der Menschheit zu wahren, den Menschenrechtsdialog und die Zusammenarbeit zu verstärken, den Austausch und das gegenseitige Lernen zu vertiefen und sich aktiv an der globalen Menschenrechtspolitik zu beteiligen.

(Quelle: Webseite der chinesischen Botschaft)

In einem Bericht der China-Stiftung zur Entwicklung der Menschenrechte vom Dezember 2022 mit dem Titel „For a Life of Contentment — The Rationale for China’s Human Rights Development“ heißt es in der Einleitung:

Die Kommunistische Partei Chinas ist eine entschiedene Verfechterin der Menschenrechte und hat seit ihrer Gründung das chinesische Volk aller ethnischen Gruppen geeint und in unermüdlichen Bemühungen angeführt, um für die Menschenrechte zu kämpfen, sie zu achten, zu schützen und weiterzuentwickeln. Unter der Führung der Partei hat Chinas Menschenrechtsbewegung eine umfassende Entwicklung erreicht, historische Erfolge erzielt und ein Wunder der raschen wirtschaftlichen Entwicklung und langfristigen sozialen Stabilität geschaffen, wie es sie in der Weltgeschichte selten gegeben hat.

Randnotiz: Bei den oben zitierten „ausführlichen Diskussionen über die Förderung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte“ findet die Förderung individueller politischer Grundrechte keinerlei Erwähnung.

Problematisch sind hier besonders für autoritär regierte Staaten (aber leider nicht nur) insbesondere Artikel 18,19 und 20:

Artikel 18 (Gedanken-, Gewissens-, Religionsfreiheit)

Jeder Mensch hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht schließt die Freiheit ein, die Religion oder Überzeugung zu wechseln, sowie die Freiheit, die eigene Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen.

Artikel 19 (Meinungs- und Informationsfreiheit)

Jeder Mensch hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.

Artikel 20 (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit)

  1. Alle Menschen haben das Recht, sich friedlich zu versammeln und zu Vereinigungen zusammenzuschließen.
  2. Niemand darf gezwungen werden, einer Vereinigung anzugehören.

(Quelle: Vereinte Nationen)

China und die Neudefinition der Menschenrechte

Am 10. Dezember 2021, dem Welt-Menschenrechtstag, gab der Pressesprecher des chinesischen Außenministeriums die chinesische Neudefinition der Menschenrechte zum besten:

„Menschenrechte für alle” ist ein großer Traum der menschlichen Gesellschaft und ein gemeinsames Ziel, das alle Länder konsequent verfolgt haben. Wer hat das letzte Wort, wenn es um die Menschenrechtssituation in einem Land geht, und wer sollte die Menschenrechtssituation in einem Land bewerten? […] Um festzustellen, ob die Menschenrechtssituation in einem Land gut ist oder nicht, muss man sehen, ob sie das Gefühl der Erfüllung, des Glücks und der Sicherheit der Menschen verbessern kann. Das grundlegendste Menschenrecht ist das Recht auf ein glückliches Leben.

China misst der Förderung und dem Schutz der Menschenrechte große Bedeutung bei. […] Mehr als 700 Millionen Menschen konnten aus der Armut befreit werden und über 1,4 Milliarden Menschenleben sind wirksam geschützt. Dies sind die besten Beispiele für die große Leistung der chinesischen Menschenrechtsentwicklung. […]

Wir setzen uns für Frieden, Entwicklung, Gleichheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit ein, die allesamt gemeinsame Werte der Menschheit sind, und verschaffen Chinas Stimme Gehör, indem wir Chinas Vorschläge unterbreiten und Chinas Beitrag zur Verbesserung der globalen Menschenrechtspolitik leisten. China hat sich auf den Weg gemacht, um das zweite hundertjährige Ziel, den Aufbau eines großen modernen sozialistischen Landes, zu erreichen. Chinas Menschenrechte werden auf einem höheren Niveau geschützt werden, und China wird neue, größere Beiträge zur internationalen Menschenrechtsentwicklung leisten.

(Quelle: Webseite der chinesischen Botschaft)

Kollektive Bestrafung für Menschenrechtsaktivisten

Kritik an der Lage der Menschenrechte in China ist lang und reicht von Hong Kong über Tibet – welches nach dem Willen der KP nicht mehr Tibet, sondern fortan nur noch Xizang heißen darf – nach Xinjiang, in die Innere Mongolei und darüber hinaus in die Lebenswelten dutzender ethnischer Minderheiten. Stichwort Sinisierung.

Auch für die Einschränkung weiterer Grund- und Minderheitenrechte der eigenen Bevölkerung steht China in der Kritik. Und für den Umgang mit den im letzten Jahrzehnt immer seltener gewordenen kritischen Stimmen. Prominentes Beispiel: der 2017 in Haft verstorbene Nobelpreisträger Liu Xiaobo.

Die Nichtregierungsorganisation Safeguard Defenders hat am diesjährigen Tag der Menschenrechte einen Bericht zur Lage von Menschenrechtsaktivisten in der Volksrepublik China veröffentlicht.

Unter Xi Jinping setzt die Kommunistische Partei Chinas zunehmend kollektive Bestrafungen als politisches Instrument ein, um Menschenrechtsaktivisten zu kontrollieren und die persönlichen Kosten für ihre Äußerungen in China zu erhöhen.

Dem Bericht zufolge spielt die traditionsreiche „kollektive Bestrafung“ eine große und effektive Rolle, wie nachfolgende Grafik zeigt.

 

  • Loss of Freedom (including disappearance, detention, prison, psychiatric detention)
  • Loss of Shelter (home eviction)
  • Loss of Education (child kicked out of school)
  • Loss of Income (lost job, demotion, lost welfare payment)
  • Exit Ban, and
  • Physical Violence (beating, kicking and death)

(Quelle/Screenshot: safeguarddefenders.com)

Ein Auszug zu Chinas Rolle aus „Aus Politik und Zeitgeschichte“ vom 01.12.2023:

75 Jahre nach Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) und 30 Jahre nach der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz zählt „Universalität“ zu den häufigsten Wörtern in Resolutionen des Menschenrechtsrates. Sie ist Grundlage aller UN-Menschenrechtsabkommen, von denen die meisten Staaten mehr als zehn völkerrechtlich bindend ratifiziert haben. Dennoch wird die Debatte um die Universalität der Menschenrechte nach wie vor geführt. Einzelne Staaten oder Staatengruppen bestreiten seit geraumer Zeit immer offener, dass Menschenrechte überall und für alle Menschen gelten. Häufig verweisen sie dabei auf kulturelle Unterschiede, traditionelle Werte oder religiöse Vorbehalte.

Chinas Rolle

Die Volksrepublik China ist in den vergangenen Jahren zum unbestrittenen Meister dieser menschenrechtsfeindlichen – und lange unterschätzten – Form der Diplomatie im UN-Menschenrechtsrat geworden.

Das bereits 1991 von der chinesischen Regierung formulierte Menschenrechtsverständnis ist kaum bis gar nicht vereinbar mit der im UN-Menschenrechtssystem fest verankerten Bereitschaft der Staaten, die Umsetzung ihrer internationalen Verpflichtungen unter Beteiligung der Zivilgesellschaft gegenseitiger beziehungsweise institutioneller Überprüfung zu unterziehen. Zentrale Elemente des chinesischen Verständnisses sind staatliche Souveränität statt Rechenschaftspflicht, Nichteinmischung statt unabhängige Berichterstattung und ökonomische Entwicklung als oberste Priorität und Voraussetzung für Menschenrechte statt menschenrechtsbasierte Entwicklung zur Verwirklichung aller Menschenrechte. Zivilgesellschaftliche Beteiligung ist aus dieser Perspektive weder erforderlich noch erwünscht; der souveräne Staat entscheidet allein über die Geltung und Umsetzung von Menschenrechten.

Chinas destruktive Menschenrechtsdiplomatie ist nicht über Nacht über die UN hereingebrochen. Schon früh gab es warnende Stimmen und genügend Anzeichen, nicht zuletzt die chinesische Verhandlungsposition bei der Gründung des Menschenrechtsrates 2006. Spätestens mit Beginn der Präsidentschaft Xi Jinpings 2013 ist Chinas Politik in den UN nicht mehr nur darauf ausgerichtet, die eigenen Menschenrechtsverletzungen im Land jeder Beobachtung und Kritik zu entziehen. Vielmehr geht es immer offensiver auch darum, mit Resolutionen, Narrativen, Personalpolitik und – wo nötig – Drohungen das UN-Menschenrechtssystem durch eine neue normative und institutionelle Menschenrechtsordnung chinesischer Prägung zu ersetzen. Hinter vermeintlich harmlosen Begriffen und Initiativen verbirgt sich erhebliche Sprengkraft für die multilaterale Ordnung im Allgemeinen und das UN-Menschenrechtssystem im Besonderen.

Ab 2017 fanden diese Positionen und Narrative auch Eingang in diverse Resolutionen des UN-Menschenrechtsrates, womit sie sukzessive durch die Vereinten Nationen legitimiert werden. Die 2018 erstmals eingebrachte Resolution zur „Kooperation zum beiderseitigen Vorteil im Menschenrechtsbereich“ („Mutually-beneficial cooperation in the field of human rights“) etwa bekräftigt, dass menschenrechtliche Angelegenheiten ausschließlich zwischen souveränen Staaten beziehungsweise Regierungen be- und verhandelt werden sollen; dabei geht es nicht um den bestmöglichen Schutz der Rechte von Individuen, sondern um den größtmöglichen Vorteil der beteiligten Staaten.

Neben dieser aktiven Strategie zur Legitimierung eigener Positionen ist die vehemente Abwehr von Kritik auch weiterhin zentrales Element der chinesischen Menschenrechtsdiplomatie, wie zuletzt im Sommer 2022 beim Umgang mit dem Bericht des Hochkommissariats für Menschenrechte (OHCHR) zur Menschenrechtssituation in Xinjiang. Es wird gezielt politischer oder ökonomischer Druck auf Diplomat*innen ausgeübt, OHCHR-Mitarbeiter*innen werden eingeschüchtert und Aktivist*innen bedroht, die Akkreditierung von chinakritischen NGOs blockiert. Auch in den Debatten des Menschenrechtsrates selbst werden Ton und Inhalt der Angriffe gegen kritische Delegationen und Sonderberichterstatter*innen unschöner, ohne dass chinesische Diplomat*innen es dabei mit den Fakten allzu genau nehmen.

(Quelle: bpb.de, Silke Voß-Kyeck, Aus Politik und Zeitgeschichte, CC BY-NC-ND 3.0 DE.)

Ausblick: Umsetzung universeller Menschenrechte weltweit bedroht

Die aktuelle Analyse der Nichtregierungsorganisation Civicus zum weltweiten Zustand bürgerlicher Freiheiten stellt fest, dass nur 2,1% der Menschen in „offenen“ Ländern leben. Länder, in denen der zivile Raum sowohl frei als auch geschützt ist.

Zur Volksrepublik China schreibt die NGO:

China, das über ein umfassendes Zensurregime verfügt, setzte es ein, um zu verhindern, dass die Menschen Szenen der Proteste in mehreren chinesischen Städten Ende 2022 sehen. Videos und Beiträge in den sozialen Medien über die Proteste wurden vom umfangreichen Online-Zensurapparat der Regierungspartei gelöscht und Wörter, die sich auf die Proteste bezogen, wurden zensiert. Im Juni 2023 säuberten die Zensoren das Internet im Vorfeld des Jahrestages des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens von allen Wörtern und Symbolen, die auf das Massaker Bezug nehmen könnten.

Aber auch Deutschland wurde 2023 in der aktuellen Monitor-Rangliste von „offen“ auf “beeinträchtigt“ herabgestuft.

China & 70 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

 

China & 70 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte


Anmerkung: Englischsprachige Quellen wurden ins Deutsche übersetzt.

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